Der Kandidat für alle Lebenslagen

■ Ob Staatslenker, Literat oder Mann des Volkes: Gerhard Schröder sucht nach der richtigen Pose. In Berlin ließ er sich von britischen Bankern und kritischen Intellektuellen feiern Von Constanze v. Bullion

Der Kandidat für alle Lebenslagen

Kurz vor dem Schlußpfiff ist es endlich soweit. La ola, die Welle, läuft durch den Saal. Gelächter und Applaus, Fragen und Antworten, Offensiven und Konter greifen ineinander wie ein ziemlich flottes Fußballspiel. Immer wieder branden die Bürgersorgen vorn an den Rednertisch. Immer wieder perlen sie am stereotypen Lächeln des hemdsärmeligen Herrn ab, der im Erdgeschoß des Berliner Verlagshauses Wählerfragen beantwortet. Einen Donnerstag lang hat Gerhard Schröder die Haupstadt besucht. Um einmal mehr zu beweisen, daß nicht das Programm, sondern die Pose seine Zuschauer glauben macht: Hier kommt der neue Mannschaftskapitän.

Wenn er's denn wird. Neun Wochen vor der Wahl, so die jüngste Emnnid-Umfrage, hat die SPD die Nase deutlich vor der Union. Auch wenn der amtierende Kanzler ein bißchen aufgeholt hat: Der Möchtegernkanzler läßt sich schon im voraus bejubeln. Drei Termine setzt er in Berlin, bei jedem verkauft er einen anderen Schröder. Doch ausgerechnet beim morgendlichen Aufritt als verläßlicher Europapolitiker gibt es Probleme mit der Logistik.

„Go and get Schröder!“ faucht ein dunkel Betuchter seine Sekretärin an, als der Niedersachse um 8.45 Uhr, kurz vor dem Anpfiff, noch nicht aus den Federn gekrochen ist. Draußen unter den Linden irren ein paar Techno-Fans auf Strümpfen nach Hause. Drinnen, unter den Kronleuchtern im Hotel Adlon, erobert ein erlesenes Gremium das Podium. „Deutsche Herausforderungen – europäische Lösungen“ heißt die wirtschaftspolitische Plauderstunde, zu der das German-British Forum den Kanzlerkandidaten geladen hat. Unüberhörbare Botschaft der Veranstaltung: „It's time for a Change.“ Und: Briten wissen, wie es aufwärts geht.

Schröder muß ans Ruder, predigen Finanzexperten von der Insel, aus Frankreich und Polen, die über Globalisierung und ein Deutschland ohne Massenarbeitslosigkeit diskutieren. Tony Blair läßt grüßen, hier wird das Hohelied von Flexibilisierung und Wettbewerb gesungen. Neben Ex-Labour-Chef Neil Kinnock und New-Labour- Vordenker Anthony Giddens rollt auch der britische Arbeitgeberpräsident J. Adair Turner dem Sozi aus Hannover einen roten Teppich aus. Alles wird gut, Jobs über Jobs, wenn der Deutsche erst seine sozialpolitischen Skrupel über Bord wirft, hört der Kandidat, als er endlich in den Saal hastet.

Was dann über den Hoffnungsträger der ewig verspäteten Nation niedergeht, ist eine Trainingsstunde vom Feinsten. Neue Jobs müssen her, indem man traditionelle zerstört. Ohne Leistungsbereitschaft kein Arbeitslosengeld. Risikogesellschaft statt Sicherheitsdenken. Die Herrschaften auf dem Podium sind très charmants, really excited und streckenweise richtig lustig. In solcher Gesellschaft fühlt Schröder sich pudelwohl – sollte man meinen. Doch auf dem Podium tritt wenig später kein flinker Stürmer, sondern ein störrischer Torwart an.

Breitbeinig, den kantigen Schädel fest zwischen die Schultern gespannt, mit strenger Nasenfalte und dieser alles durchdringenden sonoren Stimme mimt Gerhard Schröder den weltgewandten Staatsmann. Auf Witzchen muß das Publikum fortan verzichten, der Kandidat meint es verdammt ernst. Schröder, der Denker. Schröder, der Lenker. Schröder, der mit Ehrgeiz und Beharrlichkeit den Aufstieg geschafft hat: vom Hilfsarbeiter zum Abendschüler und zum studierten Juristen.

Vor den Blicken des internationalen Publikums zu bestehen, das verlangt ihm offenbar noch einiges ab. Tapfer verteidigt er das deutsche Bildungssystem, „eines der besten der Welt“. Er verweist auf jährliche 150 Milliarden Mark für „notwendige und wichtige Transferleistungen in die neuen Länder“. Energische Modernisierung schön und gut, aber nicht, ohne „die breiten Gesellschaftsschichten an Wohlstand und demokratischen Strukturen teilhaben zu lassen“. Die Briten reiben sich die Augen. Lobt Schröder nach 16 Jahren auf der Reservebank den alten Mannschaftskapitän Kohl?

Für allzu langes Geplänkel hat Herr Schröder sowieso keine Zeit. Ohne Imbiß stürmt er nach absolvierter Pflicht ins Freie. Schließlich lauert in der SPD-Zentrale ein ganz anderes Publikum, der Ministerpräsident soll sein neues Buch vorstellen. 26 Briefe an wichtige Menschen hat er verfaßt, die wollen verkauft sein mit seinem Porträt. An die Stelle gediegener Holztäfelung rücken nun die spiegelnden Glaskulissen im Willy- Brandt-Haus. Gewandelt hat sich auch der Hauptdarsteller: Jetzt ganz Literat, umweht Schröder ein schöngeistiges Lüftchen. Den Zugang zur Kunst habe er sich schwer erarbeiten müssen, versichert der Autor, stützt sich lasziv auf den Handrücken und schiebt energisch das Kinn vor.

Dann wieder lächeln. Diesmal vor der schmallippigen Meute von Feuilletonjournalisten und Verlegern, die hundertmal mehr über Literatur wissen als er selbst. Lächeln auch unter dem ironischen Blick des Literaten Sten Nadolny – eines echten Intellektuellen, der die Laudatio auf Schröders Werk hält. Der Entdecker der Langsamkeit ist nicht nur ein begnadeter Redner, sondern auch bekennender Fan von Rot-Grün. Und lobt, daß Schröder seinen Ghostwriter Reinhard Hesse nicht unterschlagen hat. Schröder findet das irgendwie auch toll von sich und lobt sich, bis auch die letzte Neugier auf sein Buch erloschen ist. Dabei gibt es da durchaus unterhaltsame Details. Vielleicht nicht unbedingt in den Episteln an den „lieben“ Joschka Fischer oder den „verehrten“ Richard von Weizsäcker. Schon eher den Brief an Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung. Schröder sei „keiner, dessen Herz und Seele an einer politischen Botschaft hängt“, habe der Journalist geschrieben. Der Vielleichtkanzler sei deshalb keineswegs beleidigt, steht auf Seite 145. Gleich neben der Warnung vor „Geringschätzung“ und „Hochmut“.

Beleidigt fühlt er sich und mißverstanden, Gerhard Schröder ist eine Diva. Nimmermüde tänzelt er ins Rampenlicht, aber wehe, das Publikum wagt einen Buhruf. Kein Wunder, daß der vielgerühmte „Medienprofi“ auch die Zunft der Besserwisser im Eilschritt verläßt. Erst am Abend, im spanplattenverzierten Erdgeschoß des Berliner Verlags am Alexanderplatz, wo die Luft steht und viele Gäste auch, blüht der Wahlkämpfer auf: Schröder, der Mann des Volkes.

Er habe sich mit Spaghettisauce bekleckert, erzählt der Kandidat leutselig, bevor er sich am Rednertisch das Sakko auszieht. Hemdsärmelig diskutiert es sich ohnehin besser mit den Berlinern, die vor den Mikrofonen Schlange stehen. Arbeitslosigkeit und Nichtraucherschutz, die Aufstiegschancen von Orthopäden und Freizügigkeit in der EU bewegen die Gemüter. „Haben Sie wirklich gesagt, man könne die Ostdeutschen ja nicht an Polen abgeben?“ erkundigt sich ein Rentner. Hat er, räumt Schröder ein, natürlich war's nicht so gemeint. Auch das „große Problem von Duty-free“ nimmt der Kandidat ernst, kein Anliegen ist zu absurd, um nicht väterlich gewürdigt zu werden.

Und langsam, ganz langsam läuft der Stürmer aus Hannover sich warm fürs Endspiel im September. Er holt mit den Armen aus, schlägt auf den nicht vorhandenen Stammtisch und redet endlich Tacheles. Transrapid ja, Stollmann sowieso, Ausländer nur, wenn sie nicht auffallen. „Was eint die Deutschen?“ will Hella Kasten aus Berlin-Lichtenberg wissen. Die deutsche Kultur, wird ihr bedeutet. Die Dame ist beeindruckt. Eigentlich sei sie Bezirksverordnete der CDU, und eigentlich habe Schröder „überhaupt kein Charisma“. Aber als der Beifall immer öfter aufbrandet, als plötzlich diese Welle durch den Saal geht und der Kanzlerkandidat verspricht, „Bewegung in die Politik“ zu bringen, da nickt Frau Kasten und spricht fast beschwörend die Sätze des Kandidaten nach.

Dann der Schlußpfiff. Schröder ist in bester Sonntagsstimmung. „Ciaoi“, ruft er überdreht einer japanischen Reporterin hinterher. In neun Wochen ist Wahl. Ob sie den Herrn mit den vielen Gesichtern danach öfter in der Stadt sehen wollen, können sich die Berliner ja noch mal überlegen.