Große Freude auf blaue Zeigefinger

In Kambodscha drängen unerwartet viele Menschen an die Wahlurnen. Die Abstimmung verläuft weitgehend friedlich, doch einige vietnamesischstämmige Wähler bekommen trotz Registrierung keine Wahlzettel  ■ Aus Phnom Penh Jutta Lietsch

Die beiden jungen Mönche in ihren gelben Roben stehen ein bißchen abseits, im Schatten der Bäume, denn schon kurz vor sieben Uhr morgens brennt die Sonne vom Himmel. „Bis jetzt geht alles okay“, sagt der 25jährige Sophal. Für wen er bei diesen ersten Wahlen in Kambodscha seit dem Putsch von 1997 stimmen will? „Den, der Demokratie bringt.“ Was er sich für die Zukunft erhofft? Sophal schaut kurz auf einen überaus interessierten Herrn, der seit einigen Minuten nicht sehr unauffällig näher rückt, um dem Gespräch zu lauschen, grinst, und erklärt: „Keine Ahnung.“

Wenige Minuten vor der offiziellen Öffnung der Wahllokale herrscht auf dem Schulhof der Preah-Norodom-Grundschule im Zentrum Phnom Penhs fröhliches Gewimmel: Hunderte von Frauen, Männern und Jugendlichen in ihren besten Sonntagskleidern drängen sich vor den Klassenzimmern, an deren Türe die Wählerlisten aushängen. Alle Versuche des Wahlleiters, die Menge dazu zu überreden, Schlangen zu bilden, schlagen fehl. Er kann sich nur noch dagegen anstemmen, daß alle gleichzeitig hereinbrechen.

„Die ,Telegraphenmethode‘ wird wohl unter diesen Umständen nicht funktionieren“, meint der philippinische Wahlbeobachter Damaso Magbual, der die Szene amüsiert betrachtet: Denn niemand könnte in diesem Gewühl eine heimliche Kette bilden, die Wahlzettel herauszuschmuggelt, draußen ankreuzen läßt und vom nächsten Teilnehmer wieder in den Raum bringen läßt. Der weißhaarige Magbual ist Experte – als Vorsitzender der philippinischen Wahlbeobachtergruppe Namfrel kennt er die „139 üblichsten Methoden des Wahlbetrugs“ aus dem Effeff, denn „wie Sie wissen, sind Wahlen bei uns in den Philippinen eine bunte Fiesta“. Er gehört zu einer Gruppe von 44 überwiegend asiatischen Beobachtern (Anfrel), die vor allem aus Oppositions- und Bürgerrechtsbewegungen in der Region stammen und eng mit ihren kambodschanischen Kollegen zusammenarbeiten.

Eines scheint an diesem Morgen ganz klar: Die Leute freuen sich, wählen zu können, und sie hoffen, daß ihre Stimme etwas bewirken kann. Alle Berichte von politischen Einschüchterungsversuchen vor allem durch die herrschende Volkspartei (CPP) des Zweiten Ministerpräsidenten und Kamboschas starken Mann, Hun Sen, haben diese Hoffnung offensichtlich nicht zerstören können.

Sorgfältig steckt der 19jährige Kosal seinen doppelt gefalteten Zettel, auf dem er eine von 39 Parteien angekreuzt hat, in die große Aluminiumwahlurne mit der Aufschrift „Gespendet von der japanischen Regierung“. Er taucht seinen Zeigefinger in die lilafarbene unlösbare Tinte, die verhindern soll, daß er noch einmal abstimmt. Sein Wunsch: „Daß jemand gewinnt, der das Land wirklich führen kann“, sagt der arbeitslose Jugendliche.

An den Wänden des Klassenzimmers hängen gezeichnete Wahlposter, die von der UNO finanziert sind. Da blickt zum Beispiel eine junge Familie – Mann, Frau und kleine Tochter – abwehrend auf die beiden Gefahren Einschüchterung und Bestechung: Auf der einen Seite legt ein Mann die Pistole auf sie an, auf der anderen bietet ihnen jemand Geschenke an. Auch der Spruch des Königs, ist mit goldener Girlande gezeichnet hier zu finden: Jeder solle bei der Wahl nur seinem Gewissen folgen, denn die Abstimmung sei geheim. Die Beobachter haben nicht viel auszusetzen. Kein bewaffneter Soldat oder Polizist ist zu sehen, nur die Wahlhelferin, die fürs Abreißen der Stimmzettel von den 50er-Blocks zuständig ist, arbeitet fürchterlich langsam. „So werden die bis vier Uhr nie fertig“, seufzt Magbual.

Ein paar Straßen weiter, wo die Wahlstation in einer großen Garage untergebracht ist, gibt es Verdächtiges zu sehen: Statt in der Menge der Wähler vorzurücken, läßt ein mittelalterlicher Mann, der offensichtlich gewohnt ist, daß man auf ihn hört, alle anderen an sich vorbeiziehen – nachdem er ihre Ausweise überprüft hat. Doch solche Einschüchterungsversuche sind offenbar verhältnismäßig rar. „Bislang sind wir sehr zufrieden“, sagt auch die Holländerin Betty Scheper von der Hilfsorganisation Novib, deren Team inzwischen über ein Dutzend Wahlstationen in der bevölkerungsreichen Provinz Kampong Cham besucht hat.

Probleme gibt es aber im Phnom Penher Stadtteil Svay Pak, wo besonders viele vietnamesisch- stämmige Kambodschaner und vietnamesische Einwanderer leben. An mehreren Stellen weisen die Wahlleiter Vietnamesen zurück, obwohl sie völlig ordungsgemäß registriert waren – „das waren bis zu 20 Prozent der Wahlberechtigten dieser Gegend“, sagt ein japanischer Beobachter.

Die scharfe Hetze der Oppositionsparteien zeigt ihre Wirkung: Prinz Norodom Ranariddh, der im vergangenen Juli durch den Putsch seines Kopremierministers Hun Sen aus dem Land verjagt worden war, hat in den letzten Wochen das tiefe Ressentiment vieler Kambodschaner gegen die vietnamesischen Nachbarn genutzt: „Die Vietnamesen wollen nur unser Land, sie wollen uns überrennen, sie wollen uns vernichten“, so der Tenor seiner Reden, die er dem dankbaren Publikum bei jeder Wahlveranstaltung einhämmerte.

In die gleiche Kerbe haute der ehemalige Finanzminister Sam Rainsy, zweiter großer Konkurrent von Hun Sen. Viele Vietnamesen haben aus Angst vor Attacken vor der Wahl das Land verlassen. Die Angriffe gegen die Vietnamesen richten sich zugleich gegen die Volkspartei des Regierungschefs: Denn als die vietnamesischen Soldaten 1979 die Roten Khmer aus Phnom Penh vertrieben und eine neue Regierung einsetzten, war der junge Hun Sen dabei. Schon 1985 wurde er – von Hanoi eingesetzt – Premierminister in Phnom Penh.

Eines der Symbole für die Unmenschlichkeit der Herrschaft der Roten Khmer in der kambodschanischen Hauptstadt ist die berüchtigte Mittelschule des Stadtteils Tuol Sleng, die unter dem „Bruder Nr. 1“ der Organisation, Pol Pot, zur Folterzentrale wurde, in der 20.000 Menschen umkamen. Für Hun Sen und viele Angehörige der CPP erinnert das Museum zugleich an die Dankbarkeit, die den vietnamesischen Befreiern geschuldet werden muß. Was sich die Verantwortlichen allerdings dabei dachten, als sie eine Wahlstation im Tuol-Sleng-Museum einrichteten, war vorerst noch nicht klar. „Wieso sollen wir hier nicht wählen?“ fragt die Kassiererin am Eingang der Gedenkstätte.

Neben den weißen Gräbern, die stellvertretend für alle Opfer an die Toten erinnern, hatten sie am Samstag bereits das Wahlzelt aus blauen Plastikplanen aufgestellt. Fünf Meter weiter, hinter den Türen zu den einstigen Klassenzimmern, blicken verzweifelte Augen Tausender Gefangener von den Fotos, die die Wände bedecken. Die Roten Khmer weideten sich an der Angst ihrer Opfer, bürokratisch genau sammelten sie nicht nur Aktenberge erzwungener Geständnisse, sondern auch die Fotos der Frauen, Männer und Kinder, die sie ermordeten.

Und der einstige Rote-Khmer- Kader-Deuch, einst Herr über das Gefängnis und berüchtigter Folterer, verbringt heute irgendwo im Westen Kambodschas unbehelligt seinen Lebensabend, geschützt von seinen alten politischen Herren, die noch vor dem Ende ihres Führers Pol Pots zur Regierung überliefen – und dafür heute mit „Exzellenz“ angeredet werden.

Doch die Roten Khmer und die Vergangenheitsbewältigung sind bei dieser Wahl kein großes Thema, auch wenn die Behörden zum Abschluß des Wahltages verkünden, daß bei einem Überfall der Roten Khmer in der Nähe ihrer einstigen Hochburg Anlong Veng im Norden des Landes zehn Menschen starben. Bei der Wahl dagegen hielten sich die Exzellenzen, wie der ehemalige Außenminister Ieng Sary, der 1996 von den Roten Khmer zur Regierung überlief und dafür mit einer Amnestie belohnt wurde, diesmal noch vornehm zurück. Seine damals gegründete Partei trat noch nicht an. In der Rubinen-Stadt Pailin, über die Ieng Sary heute herrscht, kandidierte allerdings ein erst kürzlich gewendeter Offizier der Roten Khmer für die Regierungspartei CPP. Erst am Samstag entschied die Wahlkommission dann doch nicht im Tuol-Sleng-Gefängnis wählen zu lassen.

Trotz aller Befürchtungen der Wahlbeobachter, daß die Zeit nicht reichen würde, sind die Wahlstationen schon gegen Mittag nur noch mäßig gefüllt. Als die Aluminiumwahlboxen um 16 Uhr versiegelt, in den blauen Plastiksack gestopft und in die Gemeindezentren transportiert werden, ist bereits klar: In vielen Orten haben mehr als 90 Prozent der Wahlberechtigten gewählt. So hat ganz Kambodscha seit gestern einen blauen rechten Zeigefinger.