General Lebed denkt ernsthaft nach und greift zur Feder

■ Der Gouverneur von Krasnojarsk schlägt in einem offenen Brief vor, das Kommando über eine Atomraketeneinheit selbst zu übernehmen. Hintergrund sind die Soldverzögerungen

Der russische General Alexander Lebed, Gouverneur von Krasnojarsk, hat Ministerpräsident Sergej Kirijenko einen spöttischen offenen Brieg geschrieben. Er sei bereit, das Oberkommando über eine Atomraketeneinheit in seinem Bezirk selbst zu übernehmen, heißt es in dem Schreiben vom Freitag.

„Die Offiziere der Uschursker Raketeneinheit haben nun schon fünf Monate lang ihren Sold nicht bekommen“, klagt der General: „Sergej Vladilenowitsch, das ist eine ernsthafte Einheit, und die Offiziere dort sind ernsthafte Offiziere. Und ich denke ernsthaft darüber nach, ob ich diese Einheit nicht der Jurisdiktion unseres Gouvernements unterstellen soll“, heißt es in dem Brief. „Wir Krasnojarsker sind zwar vorläufig nicht reich, aber im Austausch gegen den Status eines Kernwaffengouvernements könnten wir die Einheit schon ernähren. Und dazu würden wir auch noch neben Indien und Pakistan zu einem gleichberechtigten Kopfschmerzen-Erreger für die Weltgemeinschaft. Was sollen wir sonst schon machen, Sergej Vladilenowitsch?! Hungrige Offiziere sind sehr böse Offiziere. In 26 Jahren Armeedienst habe ich mir das ausreichend klargemacht.“

Nach Informationen von Greenpeace sind in Uschursk 500 atomare Sprengkpfe stationiert. Den Zeitpunkt für seinen Brief hatte Lebed parallel zum Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore in Moskau gewählt. Doch es gab auch einen Anlaß: Am Donnerstag hatten in Uschursk etwa 60 Offiziersfrauen einem Konvoi den Weg versperrt, der zum Schichtwechsel fuhr. Sie protestierten gegen die Soldverzögerungen und gegen die Versorgung der Einheit mit Konserven, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist.

Zu einer in der russischen Armee noch nie dagewesenen Protestaktion kam es etwa gleichzeitig bei Nischni Novgorod. Aus Verzweiflung gegen die Soldverzögerungen entührte Major Igor Beljajew einen Panzer und fuhr ihn auf den Marktplatz der nächsten Kleinstadt. In kürzester Zeit umringte eine große Menge von Frauen und Kindern das Vehikel und schmückte es mit Feldblumen.

Verteidigungsminister Igor Sergejew hat in jüngster Zeit mehrfach versichert, Rußlands Atomwaffen seien in guten Händen. Während Premier Kirijenko sich bisher geweigert hat, Lebeds Brief zu kommentieren, versicherte der Kommandeur der Raketeneinsatztruppen, General Vladimir Jakowlew, seine Einheiten in Ostsibirien, darunter im Krasnojarsker Gouvernement, hätten „alles, was sie zur Ausübung ihrer Pflicht brauchen“.

Der Vorschlag von General Lebed wird allgemein als Scherz aufgefaßt. Lebed hat es aber wieder einmal geschafft, die russische Regierung als unfähig hinzustellen und sich selbst als alternative Ordnungskraft anzubieten. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt in einem Staat lebe“, schreibt er: „Ich bitte Sie, den Brief keiner Komission zum Kampf gegen politischen Extremismus zu übergeben. Ich bin kein Extremist. Im Vergleich zu den Gedanken der Offiziere der Uschursker Raketeneinheit sind meine eigenen Gedanken rein wie Kindertränen.“ Barbara Kerneck