Schüsse im Allerheiligsten der USA

Der Todesschütze vom Kapitol war für die Sicherheitsbehörden kein Unbekannter. Nach einer psychiatrischen Untersuchung galt er als ungefährlich. Seine Eltern entschuldigen sich bei der Nation  ■ Aus Washington Peter Tautfest

Die Welle innerer Gewalt und sinnloser Schießereien in den USA hat jetzt auch das Allerheiligste des Landes erreicht. Am Freitag nachmittag schoß sich Russel Eugene Weston aus dem Örtchen Valmeyer im ländlichen Illinois mit einer Pistole den Weg ins Kapitol frei, dem Sitz der beiden Häuser des amerikanischen Parlaments. Er tötete dabei den Beamten Jacob J. Chestnut, der am Metalldetektor unmittelbar hinter dem Eingang Dienst tat, und verwickelte John Gibson, den Leibwächter des Obmanns der Republikanischen Fraktion im Repräsentantenhaus, Tom DeLay, in ein Feuergefecht. Dabei wurde Gibson erschossen und der Attentäter schwer verletzt.

Eine Touristin aus Virginia wurde an Beinen und im Gesicht von Kugeln verletzt. Während sie inzwischen wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, schwebt der 41jährige Attentäter in Lebensgefahr.

Es handelt sich um einen Mann, der unter der Wahnvorstellung litt, er werde von der Regierung mittels Satelliten ausgehorcht. Auf ihn war der Secret Service, der für die Bewachung des Präsidenten zuständig ist, schon früher aufmerksam geworden. Nach einer psychiatrischen Untersuchung aber war er als ungefährlich eingestuft worden. Sollte er überleben, droht ihm die Todesstrafe. Seine Eltern entschuldigten sich öffentlich für die Tat ihres Sohnes. US-Präsident Bill Clinton sprach von einem „Moment der Bestialität an der Schwelle der amerikanischen Zivilisation“.

Im Kapitol, das auf einem Hügel stehend mit seiner weißen, dem Petersdom nachempfundenen Kuppel alle Gebäude Washingtons überragt und jährlich von vier Millionen Touristen, Lobbyisten und Bittstellern besucht wird, befanden sich zur Tatzeit mehrere tausend Menschen. Nach Auskunft von Zeugen klangen die Schüsse wie zu Boden fallendes Metall, dessen Widerhall durch den mächtigen Kuppelsaal dröhnte – erst nach und nach dämmerte den meisten, daß im Zentrum der amerikanischen Demokratie geschossen wurde.

Das Kapitol ist ein Wallfahrtsort – einmal im Leben bringen Eltern Kinder an den Ort, wo Amerikas Politik und Gesetze gemacht werden. Entsprechend weihevoll ist das Ambiente. Im großen Kuppelsaal sieht man einen zum Himmel fahrenden George Washington. Das Kapitol und seine Nebengebäude sind zugleich der Sitz des „open government“ und der Marktplatz der Demokratie. Jeder hat das Recht, sich an die Regierung und seine Abgeordneten mit Petitionen, Klagen und Wünschen zu wenden, das ist in der amerikanischen Verfassung verbrieft. Entsprechend überlaufen sind Flure, Korridore und Kantinen des Parlaments.

Der Zugang zum Kapitol ist mithin ein Balanceakt zwischen dem Sicherheitsbedürfnis von Regierungseinrichtungen in einem immer gewalttätiger werdenden Land und dem Recht der Bürger auf freien Zugang zu ihren öffentlichen Gebäuden. Nachdem 1954 nationalistische Puertoricaner von der Besuchergalerie des Repräsentantenhauses fünf Abgeordnete anschossen und 1971 sowie 1983 Bomben im Kapitol explodierten, um gegen Amerikas Vietnamkrieg beziehungsweise den Einmarsch in Grenada zu protestieren, wurden die Sicherheitsmaßnahmen verschärft.