Lehrjahre sind Westjahre

■ Immer mehr ostdeutsche Jugendliche müssen im Westen ihre Ausbildung machen

Berlin (taz) – Für junge Mecklenburger, die keine Lehrstelle gefunden haben, hat Wolfgang Schäuble einen Tip. In seinem Wahlkreis im Schwäbischen kennt der CDU-Fraktionsvorsitzende einige Hotels, die händeringend Lehrlinge suchen. Das klingt wie ein Wahlkampfspruch, hat aber einen realen Hintergrund. Tatsächlich werden immer mehr Jugendliche aus Ostdeutschland im Westen ausgebildet.

1997 registrierte das Bundesministerium für Bildung 15.000 solche „Pendler“, in diesem Jahr werden es laut Schätzung 17.500 sein. Das bedeutet, daß jeder zehnte aus Ostdeutschland eine Zusage aus den alten Ländern erhalten wird. Dies ist kein Zufall: Mittlerweile arbeiten Arbeitsämter aus weit voneinander entfernten Regionen zusammen. Eine Kooperation besteht etwa zwischen Sachsen und Hamburg.

Trotz der Bewerberwanderung gen Westen bleibt die Situation in Ostdeutschland gespannt. Jeder könne eine Lehrstelle finden, verkündete der zuständige Staatssekretär, Fritz Schaumann, vor wenigen Tagen in Berlin: „Der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage ist hergestellt.“ Nach einer kurzen Kunstpause kam dann das große Aber: „Rein rechnerisch.“ Im Klartext: Lehrstelle ja, aber irgendwo und in irgendeiner Branche.

Die Wirtschaft verlange eben diese Mobilität von den Bewerbern. „Das ist nicht nur geographisch zu verstehen“, erklärt Hans-Hermann Schleyer vom Zentralverband des Handwerks. Nicht jeder könne den Traumberuf KfZ-Mechaniker erlernen. Freie Stellen gebe es reichlich, etwa in der ostdeutschen Landwirtschaft. Schleyer verspricht, die Handwerker würden 1998 keine Lehrstellen abbauen. Nach einer Erhebung haben die Ost-Handwerksbetriebe zwar bis zum 30. Juni 20 Prozent weniger Lehrverträge abgeschlossen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Dieses Defizit werde man aber bis zum Jahresende aufholen, beteuert Schleyer. Der Industrie- und Handelstag verspricht, 1998 sogar 1.000 zusätzliche Ausbildungsverträge abzuschließen. 64.000 Lehrlinge wollen die in dem Verband organisierten Betriebe 1998 im Osten einstellen. Dieser Zuwachs werde von neuen Berufen in der Telekommunikations- und Medienbranche getragen. Die Vermeidung eines noch krasseren Lehrstellenmangels läßt sich Bonn einiges kosten. Seit 1992 sind mehr als eine Milliarde Mark aus öffentlichen Mitteln in die Ost- Ausbildungsförderung geflossen. Robin Alexander