Diable! Warum kippt der Kerl denn nicht?

■ Im Jahre 1817 erfand der Forstmeister Drais von Sauerbronn ein Zweirad, das sich im Prinzip kaum von jenen Gefährten unterschied, auf denen Ullrich und Co. gestern über den Galibier krauchten

Berlin (taz) – Im Sommer 1818 war es plötzlich aus mit dem Sonntagsfrieden in den Parks von Paris. Die Mademoiselles rafften die Roben, empfindsame Dames stürzten in Ohnmacht, wackere Monsieurs flohen echauffiert in die Büsche, als plötzlich diese berittenen Vehikel auf zwei Rädern ihre Promenaden durchkreuzten. Bei dieser Vitesse waren die Filous kaum zu identifizieren. Unerhört. Außerdem geschmacklos, ohne jede Eleganz, dieser schweißtreibende Spagatgalopp auf Rädern. Und der Physicien von der Sorbonne rätselte einem Radler hinterdrein, der seine Beine frech in die Lüfte spreizt: Diable! Warum kippt der Kerl denn nicht?

Schuld an dem Bürgerschreck war der Forstmeister Karl Freiherr Drais von Sauerbronn. Der hatte so ein Gefährt ein Jahr zuvor in seiner Heimat erfunden und war dann zur Vermarktung in Paris eingelaufen. Seine „Draisine“ wurde ein prompter Erfolg. Nur der badische Baron sah keinen einzigen Sou: Kutschenmacher und Schmiede kupferten sein Laufrad einfach ab.

Die französische Obrigkeit begriff gleich, was auf sie zu rollte und ließ die Gendarmerie von Paris den Run aufs Rad durch Fahrzeuglizenzen eindämmen. Vergeblich: Die Gazetten zeterten noch, da war die Stadt längst der Mode erlegen. Der Volkssport ging in die nächste Runde: Noch im selben Jahr fand zwischen Beaune und Dijon das erste Fahrradrennen der Welt statt. Distanz: 37 hoppelige Straßenkilometer. Der Sieger erstrampelte immerhin eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 Stundenkilometern. Allerdings waren im Ziel die Schuhsohlen kaputt. Denn Pedale und Übersetzungen besaßen die Laufräder nicht, die Cyclisten stießen sich noch mit den Füßen vom widrigen Erdboden ab.

Physikalisch war das einspurige Zweirad trotzdem vollendet. Des Rätsels Lösung lag in der drehbaren Vorderradgabel. Mit starr eingehängtem Vorderrad, also in exakter Geradeausfahrt, läßt sich kein Fahrrad balancieren. Der Erdanziehung entwindet man sich nur schlängelnd: kaum angetreten, will das im Stand total instabile Fahrrad zwar noch immer kippen, doch mit einem Lenkerschwenk wird es wieder aufgefangen. Je schneller die Fahrt, um so schlanker die Schlängelspur. Wenn das fahrende Rad sich nach rechts neigt und wir es in eine Rechtskurve steuern, entsteht gleichzeitig eine Fliehkraft, die uns aus der Kippneigung heraus nach links zieht. Die Reibung der Reifen am Boden verhindert, daß wir ins Rutschen geraten. Allerdings schießen wir ein paar Grade über die Senkrechte hinaus, kippen in leichte Linksneigung und leiten damit eine entsprechende Linkskurve ein. Das Ganze wiederholt sich spiegelbildlich und setzt sich bei steigendem Tempo mit immer kleiner werdenden Steuerschwenks fort. Der Lenker hieße deshalb besser Balancierknüppel. Kurven lassen sich durch entsprechende Gewichtsverlagerungen auch freihändig fahren.

Von einer gewissen Geschwindigkeit an sind die Kreiselkräfte der Räder stark genug und die Ausschlagbewegungen so gering, daß sich das Fahrrad bei der Geradeausfahrt stabilisiert. Nur in den beabsichtigten Kurven neigt man sich gegen die Fliehkraft in die Kurve hinein. Bei sehr hohen Geschwindigkeiten kommt es wegen der fast ganz reduzierten Kurvenbewegungen und einer Art Kreiselstarre der schnellaufenden Räder wieder zu einem leichten Links-rechts-Schwanken. Das wird vom Fahrer meist nicht bemerkt, weil er die ausgleichenden Gewichtsverlagerungen – wie den Schlängelkurs – längst verinnerlicht hat.

Das Laufrad hatte nur eine kurze Blütezeit. Vor der Mitte des letzten Jahrhunderts stiegen die Radler aufs Hochrad und konnten ihre Galoschen schonen. Pedale an den Vorderachsen dienten als Antriebsmechanismus. Zur ersten Tour de France 1903 hockten die Sportler bereits auf Trapezrahmen mit gleich großen Rädern und übersetztem Kettenantrieb. Fahrradmanufakturen hatten längst die Serienproduktion aufgenommen. An der Physik des Fahrrads hat sich seit 180 Jahren prinzipiell nichts geändert. Wohl aber wurde seine Leistung enorm verbessert. Durch immer leichtere Bauweise, reibungsärmere Lager und Reifen, aber auch durch bessere Straßen und Wege. Doch selbst die stromlinienförmig verkleideten Liegeräder des Massachusetts Institute of Technology, mit denen über 100 Stundenkilometer erreicht wurden, verdanken ihre Rekorde letztlich dem Draisschen Dreh mit der Gabel. Uwe Wandrey