■ Der Skandal um die epochemachende Tour de France 1998 zeigt die Unfähigkeit der Sportorganisationen bei der Dopingbekämpfung
: Die schwarze Schafherde auf Rädern

Die Versuchung muß verdammt groß gewesen sein am letzten Wochenende: Einfach weiter Tennis aus Stuttgart zeigen, kein Wort, kein Bild mehr von diesem Radspektakel in Frankreich. Doch dazu fehlte der ARD der Mumm, und schließlich flimmerten sie doch wieder über die Mattscheibe, die rollenden Apotheken, mit ihren strammen Waden und den möglicherweise nicht ganz hasenreinen Blutwerten. Wohl selten hat eine Fernsehanstalt so bitter bezahlt wie die ARD für ihr Engagement bei der Tour de France. Nach Ullrichs Massenwahn auslösender Parforcejagd über Alpen und Pyrenäen im letzten Jahr wollte die gebeutelte Anstalt aufspringen auf einen Zug mit Erfolgsgarantie, kaufte sich für fünf Millionen Mark als Sponsor beim Team Telekom ein und räumte Sendezeit frei wie sonst nur bei Fußball-WM oder Olympia. Das anrüchige Image des Radsports? Doping? Pah! Doch nicht unser Ullrich, nicht unsere Telekom, nicht unsere Tour! Und wenn, dann würde sicher auch hier der große Selbstbetrug der letzten fünfzehn Jahre greifen: der Glaube an die Wettkampfkontrollen.

Weil in vielen Disziplinen, besonders im Radfahren, kein einträglicher Profisport möglich wäre, der die Menschen fasziniert, wenn man ihnen ständig das Wort Doping um die Ohren schlagen würde, hat sich die Sportwelt auf Gentlemen's Agreement geeinigt: Solange bei den Dopingkontrollen großer Wettkämpfe niemand auffällt, ist alles sauber und wunderbar. Wenn mal einer positiv ist, dann ist er ein irregeleitetes schwarzes Schaf und seine Enttarnung ein Beweis dafür, wie gut doch die Überwachung klappt. So funktionieren Olympische Spiele und Weltmeisterschaften, so funktionierte die Tour de France. Wie bei einem Schauspieler, von dem jeder weiß, daß er privat ein fürchterliches Ekel ist, dem man auf der Leinwand aber problemlos den herzensguten Philanthropen abnimmt, blenden wir auch im Sport die böse Realität aus und glauben an das Gute. Begeistert wurde Ben Johnsons 100-m-Weltrekord bei der WM 1987 bejubelt, obwohl ihm schon damals das Wort Anabolika dick auf der Stirn und vor allem den Oberschenkeln geschrieben stand. Der Mann hat nur übertrieben, was noch heute dazu führt, daß IOC-Chef Samaranch im Schlaf herbeten kann, wie viele Dopingkontrollen in Atlanta oder jetzt bei der Fußball-WM mal wieder negativ waren. Die Sportler und ihre Ärzte haben gelernt, mit dem Kontrollsystem umzugehen. Schwachstellen und Schlupflöcher? Wohlgefälliges Schweigen.

Wirklich entsetzt über die Dopingpraktiken im Radsport sind heute nur diejenigen, die letztes Jahr durch die Jan-Ullrich-Euphorie einen ganz neuen Sport entdeckt und lieben gelernt haben. Diejenigen, die sich schon immer für die Tour interessierten, also fast alle Franzosen, wundern sich mitnichten. Sie wissen längst, daß es ohne diverse Hilfsmittel nicht möglich ist, mit derart affenartiger Geschwindigkeit über die höchsten Alpengipfel zu kraxeln. Sie sind eher indigniert über die Dummheit der Ertappten und ärgerlich, weil ihnen das alljährliche Sommervergnügen vermasselt wurde. Entsprechend waren die ersten Reaktionen auf den Skandal. Solidaritätsbekundungen mit den Sündern vom Festina-Team und Wut auf die Telekom-Leute, weil diese weiterfahren dürfen, obwohl sie nach allgemeiner Auffassung – abzüglich ARD und Rudolf Scharping – allesamt zur gleichen schwarzen Schafherde auf Rädern zählen. Die Leute pilgern immer noch in Scharen an den Straßenrand, ihr Jubel ist jedoch verhaltener. Das sorgsam im Hinterkopf verborgene Wissen um übliche Manipulationen ist eine Sache, mit der Nase in den Haufen Unrat gestoßen zu werden eine andere.

Dabei wäre die Illusion auch in diesem Jahr erhalten geblieben – schließlich sind die Kontrollen bei der Tour sämtlich negativ –, wenn sich alle an die Spielregeln gehalten hätten. Frankreichs Sportministerin Marie-George Buffet tat dies nicht. Sie meint es ernst mit ihrer Antidopingkampagne, und deshalb verließ sie sich nicht auf die Selbstreinigungskräfte des Sports – anders als Politikerkollegen wie Wolfgang Schäuble, der den Dopingeinsatz 1977 für manche Disziplinen erwog, weil sonst „in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann“, oder Manfred Kanther, der erst nach Aufdeckung der Untat Mordio! schreit.

Wie schon bei den Schwimmweltmeisterschaften im australischen Perth im Januar, wo der Zoll Dopingmittel im chinesischen Gepäck fand, waren es auch in Frankreich „sportfremde“ Stellen, die die Sache ins Rollen brachten. Während das IOC nur noch Marihuanaraucher enttarnt, ließ die Ministerin Festina sowie andere Rad- Teams polizeilich überwachen. Als Augenblick des Zuschlagens wählte sie einen, der größtmögliche Publizität garantierte. Auch früher hatte es staatliche Ausschüsse gegeben – in Kanada nach dem Ben-Johnson-Skandal, in den USA, in Australien –, die weitreichenden Dopingmißbrauch enthüllten, aber sie taten dies fast diskret, abseits großer Ereignisse. Der Coup der Ministerin platzte mitten in die Tour und traf ausgerechnet Frankreichs Liebling Richard Virenque. Das ist, als hätte Atlantas Polizei 1996 mitten im Olympiastadion Carl Lewis, Michael Johnson und Dieter Baumann verhaftet. Damit nicht genug: Die französischen Behörden hielten die Affäre durch spektakuläre Verhaftungen, schnelle Geständnisse, neue Enthüllungen am Kochen und verhinderten so, daß das Thema während der Bergetappen still begraben wurde.

Juristisch ist noch eine Menge zu klären, auch in bezug auf das in Frankreich vorgelegte neue Dopinggesetz. Die Frage ist, inwieweit man Leute strafrechtlich dafür belangen kann, daß sie sich im Sport einen Vorteil verschaffen, wenn sie nicht gegen Arznei- oder Betäubungsmittelgesetze verstoßen. Sicher ist, daß die staatliche Verfolgung des Dopings ungleich effektiver ist als jene durch die Institutionen des Sports, deren Unfähigkeit Juan Antonio Samaranch am Wochenende unnachahmlich unter Beweis stellte, als er praktisch die Dopingfreigabe forderte. Vollgepumpte Sportler sind dem olympischen Granden allemal lieber als diese schrecklichen Skandale.

Sicher ist auch, daß die Tour de France im nächsten Jahr in alter Frische stattfinden wird, natürlich mit vollkommen sauberen Teilnehmern, den Blick aber ängstlich nach Paris zum Ministerium von Frau Buffet gerichtet. Nicht ganz sicher ist, ob die ARD wieder als Sponsor eines Radsportteams auftreten wird. Matti Lieske