Die Erinnyen des Erinnerns

■ Nun hat auch noch Jochen Gerz seinen Entwurf für das Holocaust-Mahnmal in Berlin zurückgezogen. Seine Begründung: Es werde nicht gewollt. Die nunmehr 15jährige Debatte über das Mahnmal bessert das nicht auf. Sie wird immer flacher und gleichzeitig immer verworrener

Die entsprechende Meldung war denkbar kurz. Der in Paris lebende Künstler Jochen Gerz hat sich entschlossen, seinen Entwurf für das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas zurückzuziehen. Gerz' Rückzieher ist nur ein weiteres Mosaiksteinchen in der Frage nach der Möglichkeit der Deutschen, zu gedenken. Die endlose Geschichte der Erinnyen des Erinnerns dauert inzwischen fünfzehn Jahre an und scheint vor allem von der Schwierigkeit getragen, zu einer Entscheidung zu kommen.

Alles begann 1983, als der damals von CDU und FDP-dominierte Berliner Senat einen Wettbewerb für ein „Mahnmal für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft“ ausschrieb. Als Standort für das geplante Denkmal war die direkt an der Mauer gelegene Brache zwischen Martin-Gropius-Bau und Wilhelmstraße vorgesehen. Der erste Preis wurde den Künstlern Nikolaus Lang und Jürgen Wenzel zugesprochen, die das Gelände mit Stahlplatten versiegeln wollten. Die Landesregierung lehnte trotz Juryempfehlung die Realisierung des Entwurfs ab. 1986 wurden bei Erdarbeiten auf dem Areal die Reste der Gestapo-Zentrale gefunden. Der Geschichtsprofessor Reinhard Rürup wurde daraufhin beauftragt, zur bevorstehenden 750-Jahr- Feier Berlins eine Ausstellung über die Vergangenheit des Geländes zu erarbeiten. Die im Mai 1987 eröffnete Informationsschau „Topographie des Terrors“ erwies sich als unvorhergesehener Publikumserfolg, daß der Senat nach einigem Hin und Her beschloß, das Provisorium zur Dauereinrichtung zu machen.

Ein Jahr später trat erstmals die von Lea Rosh gegründete Bürgerinitiative Perspektive Berlin e.V. auf den Plan. Während der Arbeit an einem Film über die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem, so Rosh, sei ihr gemeinsam mit dem Historiker Eberhard Jäckel die Idee zu einem vergleichbaren Mahnmal in Deutschland gekommen. Im Januar 1989 veröffentlichte die Initiative ihren ersten Aufruf zum Bau eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas. Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. In einem zweiten Aufruf forderte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma, „den Berliner Senat, die Regierungen der Länder, die Bundesregierung“ auf, das Denkmal nicht nur den ermordeten Juden Europas zu widmen, sondern dort auch an alle übrigen Opfergruppen zu erinnern. Die Leitung der Topographie des Terrors sprach sich ebenfalls gegen das Vorhaben aus. Davon unbeeindruckt beauftragte die „Perspektive Berlin“ im Juni desselben Jahres vier Künstler, Horst Hoheisel aus Kassel sowie die Berliner Ruth Gindhardt, Paul Pfarr und Georg Seibert, Entwürfe für die Gestaltung eines Holocaust- Mahnmals vorzulegen.

Derweil entscheidet der mittlerweile von Rot- Grün gebildete Senat, der Topographie des Terrors Vorrang zu gewähren. Daraufhin schlägt Eberhard Jäckel im Frühjahr 1990 die sogenannten Ministergärten der ehemaligen Reichskanzlei in der Nähe des Brandenburger Tores als neuen Denkmalstandort vor, für den der Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann ein künstlerisches Konzept präsentieren soll. Doch auch diese Variante ist bald hinfällig. Immerhin verhandelt Kultursenator Ulrich Roloff-Momin nun mit Vertretern des Innenministeriums über eine Beteiligung an der Trägerschaft. Die Kosten werden auf 10 Millionen Mark veranschlagt, wovon die eine Hälfte der Bund und das Land Berlin, die andere die Perspektive Berlin aufbringen soll. Nun schaltet sich auch Bundeskanzler Helmut Kohl ein und verspricht, das in Bundesbesitz befindliche Grundstück zur Verfügung zu stellen. Die Chancen für das Projekt sind gestiegen.

Im April 1994 wurde der Wettbewerb „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ offiziell ausgeschrieben. Schließlich gehen 528 Entwürfe bei den Auslobern ein. Den ersten Preis teilen sich der Kölner Simon Ungers und eine vierköpfige Künstlergruppe um die Berliner Bildhauerin Christine Jackob- Marks. Besonders der letztere, von Lea Rosh favorisierte Entwurf ruft heftige Ablehnung hervor. Die Kritik entzündet sich vor allem an den Namen der Opfer, die in die als „Grabplatte“ bekannt gewordene schiefe Ebene eingraviert werden sollen. Gerichtliche Schritte gegen die als Verletzung der Persönlichkeitsrechte empfundene Namensnennung werden angedroht, zum ersten Mal wird die Ratlosigkeit offenbar, die die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Holocaust begleitet.

Daraufhin spricht Bundeskanzler Kohl sein inzwischen berühmtes „Machtwort“. Die Auslober versuchen, der Lage mit einem zweiten, diesmal beschränkten Wettbewerb Herr zu werden. Zuvor veranstaltet der Berliner Senat als Zugeständnis an den zutage getretenen Diskussionsbedarf Anfang 1997 drei international besetzte Kolloquien, auf denen Sinn und Zweck und mögliches Aussehen des Denkmals detailliert verhandelt werden. Aus dem anschließenden Wettbewerb kommen vier der insgesamt 19 eingereichten Entwürfe in die engere Wahl, darunter auch jener von Jochen Gerz sowie der von Richard Serra und dem Architekten Peter Eisenman, der allgemein die breiteste Zustimmung findet. Eine Entscheidung zieht das allerdings nicht nach sich. Kohl fordert Serra und Eisenman auf, ihren Vorschlag zu überarbeiten. Eine weitere Etappe des Wartens und Spekulierens beginnt. Zur gleichen Zeit meldet sich György Konrad, der Präsident der Berliner Akademie der Künste, zu Wort. Konrad kritisiert den Entwurf von Serra und Eisenman als „gnadenlosen Kitsch“ und verlangt den endgültigen Verzicht auf das Mahnmal. Konrads Intervention bringt das allgemeine Zugeständnis zum Mahnmal endgültig ins Wanken. Prominente Intellektuelle wie Walter Jens erneuern ihre Argumente gegen das Denkmal, und nun sieht auch einer wie Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen die Zeit gekommen, seine eher diffusen Vorbehalte zu formulieren. Man solle in der Mahnmalsfrage „nichts überstürzen“, nötigenfalls die Grundsteinlegung noch einmal verschieben. Daraufhin sagt Serra seine weitere Beteiligung ab. Der überarbeitete Entwurf ist seither geheime Verschlußsache. Gesehen haben ihn bislang nur wenige. Die Entscheidung steht immer noch aus. Ulrich Clewing