In der City geht Blaumann vor Busineß-Anzug

Das Zentrum Berlins ist stärker von Industriebetrieben als von Dienstleistungsfirmen geprägt. Der Stadtforscher Stefan Krätke wendet sich dagegen, das Leitbild der Dienstleistungsmetropole unkritisch zu übernehmen. Ein Konzept zur Sicherung der Industrie fehlt  ■ Von Hannes Koch

Der Verkaufsprospekt ist schon gedruckt, das Ideal bereits formuliert. „PankowPark“ heißt das riesige Areal an der S-Bahn- Linie nach Oranienburg nun, das einst die Turbinenfabrik von Bergmann-Borsig beheimatete. Der heutige Besitzer, der Konzern Asea Brown Boveri (ABB), suggeriert der Öffentlichkeit, die schöne Zukunft sei schon in trockenen Tüchern. Investoren bietet man riesige Flächen an, um Dienstleistungsfirmen anzusiedeln, Ateliers für Künster einzurichten und Freizeitanlagen entstehen zu lassen – alles in „Synergie“ zu den bestehenden alten und noch anzuwerbenden neuen Industrien.

Allein: Diese Vision ist von der Realität weit entfernt. Denn seit der ABB-Ableger Adtranz seine auf dem Gelände angesiedelte Produktion von S-Bahn-Waggons einstellen will, hat der Senat als Gegenmaßnahme das Immobilienkonzept für das ABB-Areal auf Eis gelegt. Dieser Streit dreht sich nicht nur um die reale Nutzung alter Industriegelände, sondern spiegelt zugleich einen Kampf um Bilder. Wie soll die Stadt aussehen? Soll sie sich am Ideal der Dienstleistungsmetropole orientieren, die Gewerbe in ihrem Zentrum nur mehr toleriert, oder versteht Berlin die innerstädtische Industrie als Vergangenheit und Zukunft zugleich?

Der Konzern ABB hat sich entschieden. Der Begriff „PankowPark“ steht für die langfristige Hoffnung, Flächen für ihre Nutzung durch Dienstleistungsfirmen mit Gewinn verwerten zu können. Industrielle Aktivitäten stellen dabei nur noch eine Restgröße dar. Der Senat hingegen will den Konzernen die Umwidmung ihrer Flächen nicht umstandslos zugestehen und hält an einem Teil industrieller Nutzung fest – halbherzig allerdings und ebenso im heimlichen Hoffen auf die Segnungen der allseits gepredigten Dienstleistungen. Das jedenfalls meint Professor Stefan Krätke, Stadt- und Regionalforscher an der Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), der sich nun mit der Untersuchung „Die Metropole als Produktionsstandort“ in den Streit um das Leitbild einschaltet.

Erstmals auf der Basis einer genauen wirtschaftsräumlichen Analyse des Stadtgebietes charakterisiert Krätke Berlin als Produktionsstandort, dessen „durchaus zukunftsfähige Aktivitäten von den Mechanismen eines verselbständigten Immobiliengeschäfts bedroht sind“. Diese Ansicht, der Dienstleistungswahn bedrohe die industrielle Basis der Hauptstadt, kursiert als halb bewiesene Vermutung schon seit längerer Zeit. Krätke unterfüttert sie nun mit Daten über die einzelnen Branchen und ihre räumliche Verteilung über das Stadtgebiet.

„Die Innenstadt der Metropole Berlin ist ein bedeutender Produktionsstandort“, resümiert der Stadtforscher, nachdem er die einschlägigen Firmenadreßbücher durchsucht hatte. Von 2.026 Firmen innerhalb des S-Bahn-Ringes seien (Stand 1997) immerhin rund 60 Prozent den Sektoren der Kulturproduktion sowie den traditionellen Produktionszweigen und den Hightech-Industrien zuzurechnen. In der Kulturproduktion arbeiten demnach 887 Firmen, in der Industrie 416 Betriebe.

Dem stehen innerhalb des S-Bahn- Ringes 723 Unternehmen des Finanzsektors und der unternehmensnahen Dienstleistungen gegenüber – nur etwa 40 Prozent aller Betriebe. Produktion überwiegt damit die Dienstleistungen deutlich – für den Stadtforscher ein Argument, Produktions-Aktivitäten mehr als bisher zu schützen und nicht unreflektiert dem allgemein propagierten Leitbild der Dienstleistungsmetropole aufzusitzen. Für seinen Untersuchungszeitraum von 1993 bis 1996 weist der Forscher im übrigen nach, daß der Zuwachs von neuen Dienstleistungsjobs den Verlust in anderen Bereichen auch nicht ansatzweise ausgleichen konnte.

Trotz dieser Tendenz und trotz der Möglichkeiten, in billigere Gewerberäume im Umland zu ziehen, ist die industrielle Produktion immer noch in hohem Maß auf die Innenstadt konzentriert. Als Ursachen dafür gelten für Krätke unter anderem die Bindung an traditionelle Standorte wie beim Druckgewerbe in Kreuzberg, die staatlich unterstützte Bündelung von neuen Betrieben in Existenzgründerzentren auf innerstädtischen Industriebrachen oder die Nähe zu großen Nachfragern im Zentrum.

So weist Stefan Krätke nach, daß 50 Prozent der Betriebe der Kulturproduktion innerhalb des S-Bahn-Ringes siedeln. Bei den forschungsintensiven Hightechfirmen (unter anderem Laser-, Umwelt- und Biotechnologie) sind es immerhin 30 Prozent. Ebenfalls rund ein Drittel der traditionellen Elektro-, Maschinen- oder Nahrungsmittelhersteller sind in der Innenstadt zu Hause.

Dabei sind die Zuordnungen der Industriezweige zu den Begriffen „Industrie“ oder „Dienstleister“ nicht immer trennscharf. So umfaßt der Sektor „Kulturproduktion“ eindeutig herstellende Tätigkeiten wie Druckgewerbe, Musik- und Filmproduktion, jedoch auch Unternehmen, über deren Zugehörigkeit man sich mit Fug und Recht streiten kann. Sollte man Theater, Konzertagenturen und Werbedesigner als Produzenten betrachten oder als Dienstleister? Die Verfechter unterschiedlicher Entwicklungsleitbilder werden diese Grenzaktivitäten dem jeweils bevorzugten Bereich zuschlagen.

Auf der Basis seiner Analyse konstatiert Stefan Krätke einen Widerspruch in der Berliner Wirtschaftspolitik. Einerseits gebe es die tatsächliche Situation als Produktionsstandort, auf der anderen Seite die politischen Vorstellungen von der Dienstleistungsmetropole und den Druck der Investoren für die Umnutzung von Flächen. Zwar habe der Senat 1993 sein Industrieflächensicherungsprogramm aufgelegt, mit dem eine Anzahl Grundstücke für industrielle Nutzung reserviert wurden. Und 1997 habe man versucht, in bestimmten Stadtregionen spezielle Branchenprofile zu definieren. Doch insgesamt vermißt der Forscher ein schlüssiges Konzept zur Sicherung der Industrie gegenüber den konkurrierenden Branchen. Das Leitbild „Dienstleistung“ dominiere: Wie im Falle ABB räume die Politik den Investoren zu leichtfertig die Umnutzung ihrer Flächen ein. Außerdem sei es bisher kaum gelungen, die neuen, modernen Betriebe in ihren Lieferbeziehungen untereinander oder mit den großen Forschungseinrichtungen des Landes zu verzahnen. Erst die Bildung derartiger Netzwerke werde den Industriestandort nachhaltig stabilisieren.