Hauptstadt der Putzkolonnen und Sheriffs

■ Der wirtschaftliche Rückstand Berlins gegenüber anderen Regionen hat sich verstärkt, ermittelten Stadtforscher der Uni Frankfurt (Oder). Beschäftigungsrückgang verzeichen auch die vom Senat gepries

Der wirtschaftliche Rückstand Berlins gegenüber dem Bundesdurchschnitt hat sich zwischen 1993 und 1996 vergrößert. Auch die High-Tech-Industrien, die der Senat gerne als Hoffnungsträger anpreist, haben dabei mehr Beschäftigte verloren, als es aufgrund der allgemeinen Entwicklung zu erwarten gewesen wäre. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kommt ein Projekt des Wirtschaftsgeographie-Professors Stefan Krätke von der Universität Viadrina (Frankfurt [Oder]). In seiner bislang unveröffentlichen Studie spricht Krätke deshalb von einem „Strukturbruch“. Mit der vom Senat propagierten Angleichung an westdeutsche Städte habe der hiesige Negativtrend nichts zu tun.

Stadtforscher Krätke hat unter anderem fünf „profilbildende Sektoren“ der Stadtwirtschaft untersucht. In allen Bereichen hat sich die Lage schlechter entwickelt als im Bundesdurchschnitt. So ging gerade in den „forschungs- und entwicklungsintensiven Industrien“ (zum Beispiel Biotechnologie und Verkehrsindustrie) die Zahl der Beschäftigten überproportional zurück. Insgesamt verlor dieser Bereich knapp 15.000 Arbeitsplätze, während die Umrechnung des Bundestrends nur eine Verringerung um 6.000 Jobs hätte erwarten lassen.

Das Ergebnis: In Chemie und Pharmazeutik arbeiteten 1996 9 von 1.000 Berliner Beschäftigten. In Hamburg waren es dagegen 18, in München 17 und in der „Bankenmetropole“ Frankfurt am Main 53. Von der „internationalen Spitzenposition“, die der Senat gerne als Ziel ausgibt, waren die medizinische und gentechnologische Forschung noch weit entfernt.

Auch „die Verkehrstechnik gehört zu den Gebieten, auf denen wir Vorteile gegenüber anderen Standorten haben“, erklärt Wirtschaftsenator Elmar Pieroth (CDU) bei jeder Gelegenheit. Doch bei der Beschäftigung im Fahrzeugbau hat die Stadt riesige Rückstände gegenüber München und Frankfurt. „Eine zunehmende Strukturdifferenz“ zu anderen Regionen macht der Wirtschaftsgeograph zudem für den Finanzsektor (Banken, Immobilienverwaltung) aus. Ebenso verloren die Sektoren der Kulturproduktion (Film, Musik, Theater, Werbung) und der traditionellen Industrien mehr Arbeitsplätze als bundesdurchschnittlich.

Positiver sieht es dagegen bei den unternehmensnahen Dienstleistungen aus, die zum Beispiel Wirtschaftsberatungen, Verbände, Ingenieurbüros und Gebäudereinigung umfassen. Hier verzeichnen die Forscher eine leichte Abnahme der Unterschiede zu den drei Vergleichsstädten. Dies war auch der einzige Bereich, der Arbeitsplätze aufbaute, anstatt welche zu vernichten. Doch dieses positive Bild wird schnell wieder getrübt: Während 127.000 sozialversicherungspflichtige Jobs unter anderem in der Produktion wegbrachen, nahm die Beschäftigung hier nur um 8.000 zu. Zudem weist Krätke darauf hin, daß „Berlin sich heute als Hauptstadt der Putzkolonnen und Privat-Sheriffs zeigt“. In dem „ungleich bedeutsameren Zweig der Unternehmens- und Rechtsberatung sowie der Wirtschaftsprüfung weist Berlin noch immer einen Rückstand auf“, heißt es dagegen in der Studie.

Der Senat, so Krätke, unternehme zu wenig, um diesen Trend zu bremsen. Die Landespolitik hänge noch immer dem teilweise falschen Ideal der Dienstleistungsmetropole an. Eine hohe Anzahl an Industriearbeitsplätzen sei jedoch erst die Voraussetzung für die Entwicklung zur Dienstleistungsstadt, warnt Krätke. Als Beispiel nennt er München: Dort seien gerade deshalb so viele Dienstleister beschäftigt, weil ihre Produkte von einer florierende Industrie nachgefragt würden. Hannes Koch