Einfach mal unter die Dusche

Zwischen Studium, Arbeit, skeptischen Nachbarn und fremden Hühnern: Der ganz normale Alltag in den Bauwagen an der Bahrenfelder Schützenstraße  ■ Von Judith Weber

Es regnet in den Wok. Tropfen platschen in die Nudeln, ein paar Tofuwürfel baden in wäßriger Soße. „Zu mir, da ist es aufgeräumt“, ruft Julia und hat ihren Teller schon in der Hand. Elf weitere werden hastig vom Tisch geklaubt, Gabeln und Sprudelflaschen dazu. Noch den Deckel auf den Wok, und die Mahlzeit geht bei Julia zu Hause weiter – im Schlaf-, Wohn- und jetzt eben Eßzimmer, vor dem eine graue Stoff-Markise bedrohliche Wasserbeulen bildet.

Zehn Quadratmeter ist der Bauwagen groß, und als alle sitzen, sieht es aus, als hätten sie noch Gäste mitbringen können. Fünf mal zwei Meter sind genug für ein Essen zu zwölft, die Enge wirkt dank der vielen Fenster eher gemütlich als beklemmend. Mag Tim (Name geändert), der nebenan auf acht mal zwei Metern wohnt, auch mal wieder über die winzige „mobile Wohneinheit“ lästern: „Das hier reicht mir völlig“, erklärt Julia bestimmt.

Seit Januar ist ihr Wagen auf einem verwaisten Grundstück an der Bahrenfelder Schützenstraße aufgebockt, gemeinsam mit elf anderen Bau- und Zirkuswaggons. Ihren vorigen Standort, die Zeisewiese, mußten die sieben Frauen und fünf Männer räumen, weil auf dem Gelände Wohnungen gebaut wurden. Nun also die Schützenstraße: ein von Bäumen gesäumter Asphaltplatz mit einem Grashügel, auf dem lebensgroße Pappkühe mit prall-rosa Eutern stehen. Wer seine Ruhe haben will, parkt im hinteren Teil, wo der Gitterzaun fast komplett von Zweigen verdeckt ist. Vorne ist es wuseliger und lauter. Dafür, erklärt Julia, bekommt man eher mit, was die anderen tun.

Im Wagen gegenüber sitzt Annica am Schreibtisch. Neben ihrem Computer schwitzt ein Teekessel auf dem Holzofen; davor stehen ein Stuhl und ein Regal mit Wasserkanister. Der hintere Teil des Raumes ist Bett. Annica ist angehende Diplom-Sozialpädagogin und deshalb schwer beschäftigt. Wenn sich Lars, Caro und Tim vor den Wagen zum Kaffeetrinken treffen, hat sie schon an ihrer Abschlußarbeit geschrieben; zwischen Fußnoten und halbfertigen Kapiteln stehen AStA-Sitzungen an.

„Politisch links“ verorten sich die PlatzbewohnerInnen. Doch die Zeiten sind vorbei, in denen „im Wagen wohnen ein Fulltime-Job“ war, erzählt Julia. Sie lebt seit zehn Jahren im Bauwagen, und daß viele MitbewohnerInnen frühmorgens zur Arbeit aufbrechen und abends müde ins Bett kippen, ist nicht immer so gewesen. „Das war früher einfach nicht angesagt.“ Inzwischen kommen und gehen manche zur besten Bürozeit, während andere bis elf oder zwölf schlafen – Rhythmen, die sich nicht wesentlich von denen der AnwohnerInnen unterscheiden dürften.

Dennoch waren viele NachbarInnen skeptisch, als „die Bauis“ Anfang des Jahres einzogen. „Die hatten schon ein bißchen Angst vor so vielen jungen Leuten“, vermutet Annica. Also wurden Begrüßungszettel in alle Briefkästen geworfen, bald darauf lud man zum Platz-Fest. „Wir halten uns eben an gewisse Spielregeln“, erklärt Lars. Und um die Verhandlungen mit der Stadt zu erleichtern, gründeten die WagenbewohnerInnen sogar einen Verein.

Welchen Teil des städtischen Grundstücks „Kultur auf Rädern e.V.“ nutzen darf, ist genau abgesprochen. Verboten ist beispielsweise die Fläche rund um ein altes Bürogebäude, das noch auf dem Platz steht. „Nur für Besucher“ steht auf den bemoosten Schildern vor den Hausparkplätzen – übriggebliebene Ordnungshüter, denen die Kletten längst über den Kopf wachsen. Einmal haben Julia, Lars und die anderen einen Basketballkorb auf den grauen Platten aufgestellt. Prompt klagte die Sprinkenhof AG als Verwalterin des Hauses über „Vertragsbruch“.

Dabei hätte der Korb niemanden gestört. Auch die Bauwagen fallen nicht auf zwischen den Backstein-Wohnhäusern und einer Autowerkstatt, deren Besitzer ab und zu vorbeikommen und zwischen den Gefährten nach Eiern suchen, die ihre Hennen bei einem Ausflug durch den Zaun gelegt haben könnten. Im Fernsehen läuft nachmittags die Tour de France, einmal wöchentlich trifft man sich zum Plenum, und als die Einfahrt wieder einmal zugeparkt war, sorgte gar ein „bürgernaher Beamter“ mittels Funkgerät für Abhilfe. Stünde ein Haus mit Garten auf dem Grundstück, der Alltag wäre kaum anders.

Ein Vorteil herkömmlicher Wohnformen fällt einer Wagenbesitzerin sofort ein: Duschen. Einfach unter die Brause springen, „das wäre klasse“. Strom gibt es auf dem Platz, Wasser und Telefon. Geduscht wird aber bei Freunden. Allerdings soll sich das bald ändern – wurden doch bereits Wasserleitungen installiert, auch für die Toilettenspülung.

Mit dem Klowagen, dem Blumenbeet und dem gemeinsamen Kühlschrank erinnert der Platz an eine Hausgemeinschaft, gemacht für dauerhaftes Zusammenleben. Doch ganz offiziell stehen die Wagen nicht an der Schützenstraße. Noch ist der Vertrag nicht unterschrieben, der Wohnsicherheit für die nächsten zwei Jahre bieten soll. Er scheiterte bisher an der Frage, wer das Gelände nach Ablauf der Vereinbarung geräumt wieder übergeben muß.

Die Stadt verlangt, daß der Ottenser Werkhof, offiziell Pächter des Grundstücks, das auf sich nimmt. Das wollen die BauwagenbewohnerInnen nicht. „Der Werkhof hat sich als Vermittler angeboten“, argumentieren sie. „Da kann es nicht angehen, daß er den schwarzen Peter zugeschoben bekommt.“ Also wird das Geld für die Platzmiete, 500 Mark monatlich, zwar von jedem eingesammelt, „gezahlt haben wir bisher nicht“.

Selbst wenn die Stadt ihre Miete bekommt, ist das Leben auf dem Platz um einiges billiger als jedes WG-Zimmer. Mit 800 Mark im Monat kann man auskommen; viele brauchen weniger. Freier und selbstbestimmter ist der Wagenalltag zudem, finden die BewohnerInnen. „Das Interesse an alternativen Wohnformen ist groß“, weiß Julia. Alle paar Tage erscheinen Neugierige auf dem Grundstück an der Schützenstraße, die freundlich fragen, ob man mal probewohnen dürfe oder was man tun könne, um dabei zu sein.

Nichts, lautet meist die Antwort. Zwar gibt es den Männerstopp nicht mehr, der vor wenigen Jahren aus Quotengründen verhängt wurde. Aber der Platz ist voll. Und nach jahrelangem Zusammenwohnen ist aus den Bauwagen-BesitzerInnen eine Freiluft-WG geworden, eine vertraute Gruppe, der es wichtig ist, daß man sich kennt und mag. Wer in der Mitte des Platzes wohnt, hat sich längst an den Musikbrei gewöhnt, der aus den Lautsprechern diverser NachbarInnen stammt. Annica entdeckt ihre Lieblingstasse aus dem „eigenen Haushalt“, den theoretisch jedeR hat, beim Frühstück am Mund von Caro, die sich mit dem Argument verteidigt: „Ich will meine von Arte wiederhaben, die weiße.“ Und Julia, die seit zehn Jahren in ihrem Wagen lebt, repariert das gemeinsame Lastenfahrrad „Long John“, das skurrile, aber praktische Kind eines Tandems und eines Bollerwagens.

Ein „ziemlich seßhafter Mensch“ sei sie, sagt Julia, bevor sie noch mal rüberflitzt zu Annica, um sich Kaffee zu borgen. „In meinem Wagen kenne ich jeden Nagel.“ In eine Wohnung zu ziehen, kann sie sich deshalb nicht vorstellen. Nur selten, wenn die Fragen nach dem „Warum“ allzu lästig werden, erzählt sie Fremden gegenüber lediglich, daß sie „mit Freunden“ zusammenlebe. „Dann sage ich: Wir haben einen Garten.“