Lehrjahre eines traumatisierten Waisenkindes

■ Thrillerähnliche, ziemlich schmerzhafte Stories: Harold Brodkeys Erzählungen aus dem Nachlaß, „Gast im Universum“, suchen die menschliche Seele und gehen dabei unter die Haut

Wiley Silenowicz, Hauptfigur des Riesenwälzers „Die flüchtige Seele“ und Alter ego des Autors, ist Mittelpunkt auch dieses Buches, das sämtliche, zum Teil romanhaft langen Erzählungen aus Harold Brodkeys Nachlaß versammelt. 22 „phantastisch katastrophale“ Lehr- und Leidensjahre, von 1934 bis 1956, aus dem Leben eines „unheimlich schwer traumatisierten“ Waisenkindes, dessen Adoptiveltern „zyklisch selbstmordgefährdet“ sind und ihren Sohn mit „gefühlvoller Grausamkeit“ überschütten. Das liest sich wie die Inhaltsangabe eines Schulungsfilms aus den Siebzigern für schwer betroffene Erstsemester der Sozialpädagogik; Regie, sagen wir, Margarethe von Trotta.

Doch Brodkey gelingt es, aus diesen bleiernen Karfreitags- und Jammertalzutaten thrillerähnliche Stories zu formen, die über weite Strecken an und nicht auf die Nerven gehen. Brodkeys Geschichten drehen sich um Schmerz in all seinen Ausprägungen – Verlust geliebter Menschen, sadistische Folter, Hirntumor, selbst den banalen Schmerz, der beim fahrlässigen Umgang mit einem Tomatenmesser entsteht. Diese Geschichten strengen an, aber das tut guter Sex auch.

Da ist beispielsweise die sechzig Seiten lange Badezimmerszene mit dem vierjährigen Wiley und seiner prallen Adoptivmutter Lila. Wiley, schwer krank, bloß noch Haut und Knochen, vollgeschissen und diktatorisch stumm, wird mit Waschlappen und Lilas Dominageschwätz traktiert. Der wehrlose Ich-Erzähler Wiley empfindet tiefen Haß für seine Aufseherin-Mutter, gleichzeitig verliebt er sich in sie, sucht die Nähe ihrer „pudrig üppigen“ Brüste.

Ähnlich schwankt Lila zwischen Ekel und Interesse an dem Wurm Wiley, zwischen Mißhandlung und Zärtlichkeit, auch „grapschiger“. Wenn der abgegriffene Kritikerspruch von der atmosphärischen Dichte jemals Sinn gemacht hat, dann hier, in der Schwüle dieses Badezimmers im Jahr 1934.

Derselbe Ort, zehn Jahre später. Wiley, mittlerweile 14, wird von seinem todkranken Zweitvater bedrängt. Der abgehalfterte Daddy, der in guten Zeiten mit seinem großen Schwanz für Aufsehen sorgte, bettelt um Zärtlichkeiten und Handreichungen spezieller Art. Hinter dem Duschvorhang steht Wiley, angewidert, aber immerhin mit einer „Dreiviertelerektion“.

Harold Brodkey war ein Chirurg, und zwar einer von der erbarmungslosen Sorte. Das Wegschneiden des Tumors überließ er anderen; ihn interessierte der kunstvolle Umgang mit dem Skalpell, das exakte, fein säuberliche Schälen der Hautschichten, der tiefe Schnitt; getrieben von der Hoffnung, irgendwo zwischen Gallenblase und Leber ein Organ zu finden, das auf keiner medizinischen Landkarte verzeichnet ist: die menschliche Seele.

Brodkey war verdammt nah dran. Und die internationalen Großkritiker haben ihn zu Recht gefeiert und schon zu Lebzeiten heiliggesprochen. Harold, die einsame Spitze, der Dichtertitan, die sprachliche Supermacht, der Sir Stanley Matthews der amerikanischen Literatur.

Beängstigend. Doch glücklicherweise sind ihm in „Gast im Universum“ ein paar Eitelkeitspannen unterlaufen. Brodkey gibt gern mit Fremdwörtern an („die polymorphe, polychromatische strahlende Wirklichkeit“), spielt sich gelegentlich als ein Proust oder, schlimmer noch, als der Boß einer verbeamteten Vorstadtphilosophen-Gang auf („Der nichteuklidische Aufruhr des Zweifels“ oder, noch genialisch bescheuerter: „Wirkliche Augen sind wirklich wirklich“) und langweilt mit primadonnenhaftem Pseudotiefgang: „Das Leben und das Bewußtsein sind schwer zu ertragen.“

Neben solcherart Überspanntheiten macht er auch ziemlich viel Wind mit Adjektivhäufungen, sein Hang zu ausuferndem Partygeschnatter ermüdet. Na ja, ein paar Gramm Modeschmuck unter kiloweise Platin und Edelsteinen.

Die schönste Perle unter den insgesamt zehn Stories ist für mich „Frühlingsfuge“, eine halb tragische, hinreißend witzige Aprilgeschichte, Bach und Beatle, die von einem leicht wehleidigen Mann und seiner straighten Gattin handelt. Doch auch hier geht infolge eines Küchenunfalls der Schmerz tief unter die Haut.

Harold Brodkey starb, 66 Jahre alt, im Januar 1996 in New York an den Folgen von Aids. Sein Tod bewahrte ihn vor dem Nobelpreis. Dietmar Sous

Harold Brodkey: „Gast im Universum“ („The World is the Home of Love and Death“). Stories. Deutsch von Angela Praesent. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 412 Seiten, 42 DM