■ In Japan befördert die Zunahme der Arbeitslosigkeit Reformen
: Schocktherapie

Gemessen an europäischen Maßstäben, ist eine Arbeitslosenrate von 4,3 Prozent äußerst gering. Für die japanische Bevölkerung dagegen ist sie ein untrügliches Indiz, daß die Rezession sich verschlimmert. Innerhalb eines Jahres haben in Japan über 550.000 Menschen ihre Stelle verloren. Nun sind offiziell 2,84 Millionen Leute stellenlos. Das ist ein Nachkriegsrekord und verunsichert die Menschen Nippons mehr als all die anderen Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft.

Hinter der Statistik verbergen sich wie immer Einzelschicksale, die zum Teil erschüttern. Zu berichten wäre über rausgemobbte ledige Frauen, die nach zehn dienstbeflissenen Jahren über Nacht auf der Straße landen. Da sind die bald 300.000 Uni-Abgänger, die keinen Job mehr finden. In ihrer Altersklasse beträgt die Arbeitslosenrate fast neun Prozent. Da ist das wachsende Heer von landesweit über 15.000 Obdachlosen, die sich in Zelten und auf Parkbänken häuslich eingerichtet haben. Und da sind immer mehr Salari- Männer zwischen 45 und 55, die glaubten, einen garantierten Arbeitsplatz zu besitzen und automatisch nach Dienstjahren befördert zu werden. Sie werden nun als überflüssige Allrounder nicht mehr gebraucht. Diese Männer bewegen sich auf der Karriereleiter ausnahmslos nach unten und nehmen inzwischen Putzfrauenjobs an.

Es mag zynisch klingen, aber der Schock am Arbeitsmarkt hat für Japan durchaus positive Seiten. Das ritualisierte Angestelltensystem wird aufgebrochen und weicht einem freien Arbeitsmarkt. Das schafft zwar Verunsicherung und Unzufriedenheit. Aber ohne diese Faktoren wäre der Wähleraufstand vor drei Wochen, der die Regierung Hashimotos aus dem Sessel fegte, gar nicht zustande gekommen. Endlich wird in der breiten Masse über die verfehlte Struktur der Inselwirtschaft diskutiert und werden Reformen angemahnt. Die neue Regierung spürt den Druck aus der Bevölkerung mehr denn je und muß neue Rezepte vorlegen.

Die Bevölkerung akzeptiert nicht mehr, daß Hunderte von Milliarden Mark Subventionen in die Bauindustrie fließen, nur um die Macht der regierenden Liberal-Demokraten zu erhalten. Jetzt wollen die Japaner Stimulierungsmaßnahmen sehen, die ein nachhaltiges Wachstum mit Arbeitsplatzsicherung garantieren. Dafür sind sie auch bereit, auf einem freien Arbeitsmarkt zu konkurrieren und sich den neuen Verhältnissen ohne lebenslange Stellengarantie anzupassen. André Kunz