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: Kreml-Meteorologie

Die Nachricht, daß Präsident Boris Jelzin am Mittwoch vorzeitig aus dem Urlaub zurückgekehrt ist, traf Moskau wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nur daß eben der Himmel, dort, wo die Nachricht ihren Ursprung nahm, finster aussah. Über der Schujskaja-Bucht in Karelien, wo Jelzin sich zu erholen versuchte, hatte es seit neun Tagen ununterbrochen Bindfäden geregnet, bei Höchsttemperaturen um fünfzehn Grad. Die einfachste Erklärung wäre nun, daß der Präsident es einfach satt hatte, ständig im Hause herumzuhocken.

Aber die RussInnen wären nicht sie selbst, wenn sie sich mit einfachen Erklärungen abspeisen ließen. Deshalb feierten in Moskau die Gerüchte über eine Regierungsumbildung sofort fröhliche Urstände. Und Boris, der sonst sogar groben Vereinfachungen gar nicht abgeneigt ist, lieferte diesmal den Sensationslüsternen Nahrung. Er gestand bei seiner Landung in der Hauptstadt die befremdliche Angst ein, den Anschluß an den Herbst zu verpassen. Wörtlich sagte er: „Jetzt ist der Übergang von der politischen Sommerperiode in den Herbst, und es gilt, in die neue Periode sicher, fest und ohne Stolpern einzutreten.“

Für den dunklen präsidialen Drang zur Ortsveränderung bietet sich auch noch eine weitere Theorie an. Langzeitstudien beweisen, daß Jelzins Hauptaktivitätsphase stets in den Herbst fällt. Könnten nicht die herbstlichen Temperaturen in Karelien diesen Schub bei ihm vorzeitig ausgelöst haben?

Nur wenige Kommentatoren bemerken, daß der Präsident tatsächlich Gründe hat, die Ärmel hochzukrempeln: die überall im Lande grassierenden Streiks und Meetings, bei denen sein Rücktritt gefordert wird, die unermüdlich tagende Impeachment-Kommission der Duma und eine gähnend leere Staatskasse. Nur eine einziger Mitarbeiter eines Moskauer Zentrums für Politanalysen kam aber auf die Idee, die Sache andersherum zu betrachten: „Wir sollten nicht fragen, warum Jelzin aus dem Urlaub zurückgekommen ist, sondern wieso er überhaupt einen angetreten hat.“ Barbara Kerneck