Werben um die unbekannten Wähler

18.000 Rußlanddeutsche leben allein in Marzahn und Hellersdorf. Während andere Parteien sie links liegenlassen, machen Rechte mobil. Ein Aussiedler wirbt seine Landsleute im Namen des Bundes Freier Bürger  ■ Von Marina Mai

„In der ganzen Welt ist es so: Es gibt die eigenen und die Fremden. Und zuerst einmal sind die eigenen dran.“ Otto Oesterle, der 58jährige habilitierte Geologe spricht den Satz mit russischem Akzent. Er lebt seit 1992 als Aussiedler in Neukölln und ist davon überzeugt, daß es Deutschland besser ginge, wenn weniger Ausländer kämen. Zum Beispiel keine jüdischen Kontingentflüchtlinge mehr aus den GUS-Staaten. „Die sind nicht politisch verfolgt“, erklärt Oesterle. Daß auch er in Rußland nicht verfolgt war sei freilich etwas anderes. „Wir Aussiedler sind keine Flüchtlinge. Wir kommen als Deutsche in die Heimat. Und es ist unrecht, daß so vielen von uns die Einreise noch verwehrt wird.“ Knapp eine Million Deutschstämmige würden in den GUS-Staaten auf den Weg ins gelobte Land warten.

Damit das anders wird, will Oesterle im Herbst in den Bundestag einziehen. Für den rechten Bund Freier Bürger (BFB) kandidiert er auf dem vierten Platz der Berliner Landesliste. Oesterle hat im vergangenen Herbst die „Bundesvereinigung Heimat“, eine Interessenvertretung von Aussiedlern, die in den 90er Jahren kamen und sich durch die Landsmannschaft nicht vertreten fühlen, mitgegründet und gehört ihrem Bundesvorstand an. Die „Heimat“ ging ausgerechnet mit dem rechtsnationalen BFB des FDP-Aussteigers Manfred Brunner eine Listenvereinigung für die Bundestagswahl ein. Außer auf der Landesliste vertritt der arbeitslose Oesterle seine Partei noch im Wahlkreis Marzahn/Hellersdorf.

Der Wahlkreis wurde mit Bedacht gewählt. In Marzahn leben inzwischen 12.000 Rußlanddeutsche, schätzt die bezirkliche Migrantenbeauftragte Elena Marburg (SPD). Die genaue Zahl kennt niemand, denn die Leute haben einen deutschen Paß und werden nur im ersten Jahr gesondert erfaßt. Falls sie stimmt, ist jeder 12. Wahlberechtigte in Marzahn ein Rußlanddeutscher. In Hellersdorf sollen 6.000 Aussiedler leben – jeder 21. Wahlberechtigte. Oesterle ist als Akademiker unter seinen Landsleuten geachtet. Kenner trauen ihm ein Wahlergebnis um die fünf Prozent zu. Er hält in Marzahn Computerkurse für Aussiedler ab und publiziert in rußlanddeutschen Zeitschriften. Hinzu kommt, daß die „Bundesvereinigung Heimat“ es versteht, für den BFB viele Rußlanddeutsche zu mobilisieren. So hat der Brandenburger Landtagsabgeordnete Andreas Kuhnert (SPD) festgestellt, daß viele der Unterstützerunterschriften des BFB in seinem Wahlkreis von Aussiedlern kamen. Aussiedler, so kalkuliert die Anti- Euro-Partei, könnten ihr über die Fünfprozenthürde helfen. Spätaussiedler sind in den 90er Jahren die größte Einwanderergruppe. Sie bekommen wegen ihrer deutschen Vorfahren die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt. Sie vereinen bundesweit über zwei Millionen Wählerstimmen, in Berlin etwa 110.000.

Bisher waren die mehrheitlich wertkonservativen Aussiedler eine treue CDU-Klientel. „Die CDU hat es verstanden, den Aussiedlern klarzumachen, sie verdanken es dem Kanzler, daß sie hierher kommen dürfen“, sagt eine Sozialberaterin. Helmut Kohl läßt sich vor den Wahlen in der Aussiedlerpresse auf der Titelseite ablichten.

Doch vor allem die Neuankömmlinge, die erst in den 90er Jahren kamen – und das sind die meisten – fühlen sich dem Kanzler weniger verbunden. Wer meinte, im gelobten Land mit offenen Armen empfangen zu werden, ist tief enttäuscht. Gesetzesänderungen führten dazu, daß für Neuankömmlinge Sprachkurse, Renten, Anspruchszeiten für Arbeitslosengeld und Qualifizierungsmaßnahmen soweit zusammengestrichen wurden, daß vielen nur die Sozialhilfe bleibt. Und einmal hier angekommen, stellen sie zudem fest, daß ihre in den GUS-Staaten erworbenen Qualifizierungen nicht anerkannt werden, daß sie auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben. Viele empfinden das als Schikane. Hinzu kommt, daß sie von ihren Nachbarn nicht als Deutsche, sondern als Russen wahrgenommen werden. Spätaussiedler sind im Osten oft Opfer von Fremdenfeindlichkeit. Gerade in den Berliner Neubaubezirken ist der Aussiedleranteil mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der Ausländer. Und wer als Deutscher in die wahre Heimat zu kommen glaubte, hat mit Fremdenfeindlichkeit nicht gerechnet.

Die Unzufriedenheit mit der sozialen Situation macht Aussiedler für rechte Demagogen empfänglich. Selbst die NPD wirbt um ihre Gunst. Dabei machen die Rechtsradikalen in den Ostbezirken bei der alteingesessenen Bevölkerung Punkte mit Fremdenfeindlichkeit – die sich zumeist gegen „die Russen“ richtet. Daß die NPD auf der anderen Seite die von ihren Anhängern gehaßten „Russen“ umwirbt, wissen diese nicht. Ihre Werbungen steckt die NPD den Aussiedlern in Marzahn in russischer Sprache in die Briefkästen. Ihr seid Deutsche, steht dort, und ihr dürft nur hierherkommen, wenn ihr eine Sprachprüfung besteht. Die vielen „Asylanten“ könnten hingegen einfach so kommen. Das sei eine ungerechtfertigte Diskriminierung. Bei einigen stößt das auf offene Ohren.

Eine Lehrerin, die Neuankömmlinge in der deutschen Sprache unterrichtet, hat festgestellt, daß viele bereits mit deutschnationalem bis nationalistischem Gedankengut aus den GUS-Staaten einreisen. „Ein Bedauern, daß Hitler den Krieg nicht gewonnen hat, wurde im Unterricht öfter geäußert“, sagt sie. „Als ich nach der Unterrichtsstunde im Kolleginnenkreis meine Erschütterung ausdrückte, sagte eine Kollegin, daran müsse ich mich gewöhnen. Die deutschesten Deutschen kämen eben aus Kasachstan.“ Die Lehrerin hat es ihren Kursteilnehmern untersagen müssen, im Unterricht mit Hitlergruß zu grüßen.

Die SPD-Frau Elena Marburg stellt jedoch eine „deutliche Ausdifferenzierung“ des politischen Interesses fest: Viele wären auch auf Angebote anderer Parteien neugierig. Doch ihre eigene Partei hätte die neue Wählergruppe bisher nicht entdeckt. SPD und Bündnisgrüne hätten es selbst bei intensiven Bemühungen schwer: Der Vorstoß des jetzigen SPD-Chefs Oskar Lafontaine aus dem Jahr 1994, den Zuzug von Aussiedlern zu begrenzen, wird vor allem jetzt im Wahlkampf in der Aussiedlerpresse in Erinnerung gerufen. Sozialdemokraten und Bündnisgrüne fordern zudem ein Einwanderungsgesetz, nachdem Aussiedler gegenüber Zuwanderern ohne deutsche Vorfahren nicht bevorzugt berücksichtigt werden sollen – für viele Deutschstämmige ist das eine „Diskriminierung“.

Wenn links von der CDU überhaupt eine Partei eine Chance bei den Rußlanddeutschen hat, dann ist es die PDS. Die Abgeordnete Karin Hopfmann, die sich seit Jahresbeginn um die Lebensbedingungen von Aussiedlern kümmert, stößt mit Angeboten ihrer Partei bei einem kleinen Teil der Neuankömmlinge durchaus auf Interesse. „Ich habe in meinem Wahlkreis in Hohenschönhausen Kontakte zwischen der Parteibasis und Aussiedlern mit Erfolg vermitteln können“, erklärt sie. Vor allem ältere PDSler und Aussiedler hätten zueinander gefunden. Doch oft bemüht sich die PDS zwar redlich, doch eher ungeschickt um die ihr unbekannte Klientel.

Die CDU bemüht sich in Marzahn, ihre wichtige Wählerklientel zurückzugewinnen. Kein geringerer als Bundesaussiedlerbeauftragter Horst Waffenschmidt hält Ende August eine Wahlkampfveranstaltung für die Union im Berliner Osten ab. Und auch die Marzahner Frauenunion hat nun mehrere rußlanddeutsche Frauen in ihren Reihen. Eine arbeitet als Bürgerdeputierte in der BVV.

Der BFB-Kandidat Oesterle hat für Waffenschmidt dagegen nur ein Lächeln übrig. „Der behauptet, in Sibirien gäbe es Inseln, in denen Deutsche leben könnten. Und unsere sozialen Probleme hier hat die CDU doch erst möglich gemacht.“ Für Oesterle steht fest: Keine andere Partei als der BFB ist bereit, Interessen von Aussiedlern zu vertreten.