Viele kleine Pflastersteine

Der Soziologe Pierre Bourdieu rüstet zum Engagement und entrüstet Teile der französischen Öffentlichkeit. Manche werfen ihm Eitelkeit und Machthunger vor, doch an der Organisation seiner „Einmischungen“ läßt sich beispielhaft ablesen, wie Kritik praktisch wird  ■ Von Gregor Husi

„Vielleicht muß man, um ein guter Soziologe zu sein, beides haben: die Dispositionen, die zur Jugend gehören, also eine bestimmte Form von Bruch, Revolte, sozialer ,Unschuld‘, und auch die anderen, die man im allgemeinen erst dem Alter zubilligt, also den Realismus und die Fähigkeit, den rauhen, desillusionierenden Realitäten der sozialen Welt ins Gesicht zu sehen.“Pierre Bourdieu

Um Pierre Bourdieu herum ist in den letzten Jahren ein kleines wissenschaftlich-politisches Imperium entstanden. Hier wird allerdings keine direkte Politisierung der Wissenschaft angestrebt, vielmehr tritt Bourdieu entschieden für deren Autonomie ein. Bourdieu gründete 1975 die Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales, eine sozialwissenschaftliche Spielwiese für kritische DenkerInnen aus aller Welt. Der Zeitschrift liegt seit 1989 überdies Liber bei, ein von Bourdieu zum Leben erwecktes, am Anfang auch von großen europäischen Zeitungen mitvertriebenes Forum für neue Bücher.

Bourdieus editorische Aktivitäten indessen reichen weiter, und gerade dies scheint VertreterInnen der Politik und der Medien zu irritieren, die von Bourdieu und seinen MitstreiterInnen besonders aufs Korn genommen werden. So wurde vor zwei Jahren der Verlag Liber – Raisons d'agir ins Leben gerufen. MitarbeiterInnen berichten, daß die kollektive Arbeit an der von Bourdieu herausgegebenen, unter dem Titel „Das Elend der Welt“ erschienenen soziologischen Dokumentation von sozialer Randständigkeit als Initialzündung gewirkt hatte.

Bislang sind ein knappes halbes Dutzend dünne und preiswerte Büchlein in diesem Verlag erschienen. Das Konzept scheint sich zu bewähren, denn diesen Erzeugnissen – Libération nannte sie „die kleinen Pflastersteine von Bourdieu“ – ist zum Teil ein umwerfender Erfolg beschieden. Bourdieus „Sur la télévision“ verkaufte sich über 100.000mal, „Les nouveaux chiens de garde“ über die französischen Medien, verfaßt von Serge Halimi von Le Monde diplomatique, gar noch 50.000mal mehr.

Gesucht: eine wahre, kritische Linke

Zu wenig gelesen wird dagegen ein anderer Text, der anhand zweier von zahlreichen Intellektuellen unterzeichneter Petitionen im Dezember 1995 zwei entgegengesetzte Positionen im „intellektuellen Feld“ herausarbeitet: auf der einen Seite eine Linke, „von der die Rechte immer geträumt hat“, den Mächtigen in Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Medienwelt nah, auf der anderen Seite eine „wahre“, kritische Linke. (Die eine Petition wurde etwa von Alain Touraine unterzeichnet, die andere zum Streik der EisenbahnerInnen von Bourdieu, Jacques Derrida und anderen.)

Als AutorInnen sind in dieser Buchreihe militante WissenschaftlerInnen gefragt, die zu einer Art „internationaler Populär-Enzyklopädie“ beitragen wollen. Bourdieu verweist auf die Tradition von Émile Durkheim und Marcel Mauss, die bereits die soziologische Selbstreflexion der Gesellschaft als Mittel zu deren Verbesserung praktizierten. Parallel zu den verlegerischen Tätigkeiten hat eine Gruppierung mit demselben Namen „Raisons d'agir“ (deutsch: Gründe zum Handeln), der laut Gérard Mauger nunmehr etwa fünfzig Mitglieder angehören, 1996 zusammen mit Bourdieu politische Initiativen ergriffen. Ihren Vorsitz hat zur Zeit Frédéric Lebaron. Zahlreiche Arbeitsgruppen (Universität, Medien, soziale Sicherheit, Arbeitslosigkeit etc.) haben in diesem Rahmen ihre Arbeit aufgenommen.

Intellektuelle als Militante der Vernunft

All diese Offensiven zusammen haben das Gerücht genährt, der bedeutendste zeitgenössische Soziologe Frankreichs wolle im Juni 1999 für das Europaparlament kandidieren, und zwar zusammen mit Viviane Forrester, der Autorin von „Der Terror der Ökonomie“. Gérard Mauger gibt im persönlichen Gespräch zu verstehen, die Gruppe „Raisons d'agir“ habe das Gerücht nicht in die Welt gesetzt, sie sei aber des Propagandaeffekts wegen auch nicht unglücklich darüber. Mauger dementierte schließlich in Le Monde die Kandidatur: Der Gruppe fehlten die Mittel, um in der Politik im großen Stil zu agitieren.

Bourdieus Engagement läßt sich leicht mißverstehen, wenn als Hintergrund seine Analysen über die Aufgaben der Intellektuellen und der Soziologie außer Acht gelassen werden. Der Autor von „Homo academicus“ erklärt den „kollektiven Intellektuellen“ zu seinem Ideal. An diesem jedoch seien die Massenmedien mit ihrem Verlangen nach „großen Namen“ mit beträchtlichem symbolischem Kapital wenig interessiert.

In seinen theoretischen Schriften hat er schon oft die Intellektuellen als beherrschte Herrschende dargestellt, und auch ihm gilt Émile Zola als „Erfinder eines historischen Modells“. „Man müßte es fertigbringen, Wissenschaft und Militanz zu versöhnen, den Intellektuellen die Rolle von Militanten der Vernunft wiederzugeben, die sie etwa im 18. Jahrhundert innehatten“, sagte er einmal in einem Interview. Vom intellektuellen Prophetentum hält er dabei nichts, vom Kampf der Ideen dafür um so mehr: „Die Intellektuellen sind grundsätzlich nicht sehr leicht zu organisieren, und das ist nur gut so. Die Intellektuellen sind gespalten. Es geht bei ihnen nicht um die Konkurrenz um der Konkurrenz willen, sondern ihr Kampf gegeneinander ist ja letzten Endes ein Kampf darum, was richtig ist, ein Kampf um die Wahrheit. Und da kann der Kampf ,alle gegen alle‘ gar nicht weit genug gehen.“

Erstaunlich, daß dieser Intellektuelle par excellence über sich selbst sagt, er habe sich in seiner Intellektuellenexistenz nie wirklich gerechtfertigt gefühlt, liebe den Intellektuellen an sich nicht. Und er habe bis heute nicht aufgehört, aus seinem Denken alles auszutreiben, was an den Status eines Intellektuellen geknüpft sei.

Gegenfeuer im Dienste des Widerstands

Den neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen geht Bourdieu in seiner letzten größeren Veröffentlichung nach, einem Büchlein, das wie schon „Sur la télévision“ in der Reihe „Liber – Raisons d'agir“ erscheint. Der kräftige Titel lautet „Contre-feux“, Gegenfeuer. Im Untertitel gibt Bourdieu gleich seinen gegenwärtigen Hauptfeind preis: Es handelt sich nämlich um „Argumente im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion“. Versammelt sind siebzehn politische Interventionen: Gespräche, Entgegnungen, Artikel, Diskussionsbeiträge aus den Jahren 1992 bis 1998. Hier findet sich beispielsweise Bourdieus Ansprache vor den streikenden EisenbahnerInnen am Gare de Lyon im Winter 1995 oder vor den Arbeitslosen, die Anfang dieses Jahres die prestigereiche École normale supérieure besetzten.

Bourdieu kämpft anspielungsreich gegen die falsche Alternative „libéralisme ou barbarie“. Indem er vehement für ein soziales Europa und einen supranationalen Staat eintritt, bringt er in der Europafrage die schwachen Allianzen zwischen Teilen verschiedener politischer Lager in Verlegenheit. Er wägt Wahrheit und Unwahrheit des Globalisierungsdiskurses ab und weist die neoliberale Doxa mit ihrem Gerede von Flexibilität und Deregulierung, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zurück. Die Suche gilt einem „neuen Internationalismus“. Vielleicht am wichtigsten: Die aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen führen zu einer verallgemeinerten objektiven wie subjektiven Verunsicherung. Bourdieu erkennt darin einen „Herrschaftsmodus neuen Typs“ und spricht vom „prekarisierten Habitus“. Der Kampf aller gegen alle, um Arbeit und in der Arbeit, zerstöre Solidarität und Humanität. Nicht ökonomisches Schicksal, sondern politischer Wille stehe am Anfang dieser Prekarität.

Am selben Tag der Besetzung der École normale supérieure schossen Bourdieu, Lebaron und Mauger in Le Monde auf alles, was sich nicht bewegt: auf gewisse PolitikerInnen, Medienschaffende und GewerkschafterInnen zugleich, und begrüßten die Bewegung der Arbeitslosen. Sie ermögliche nämlich eine Bewegung von der Isolierung zum Kollektiv, vom Schweigen zur Äußerung, von der Niederdrückung zur Revolte, vom Elend zur Wut. Sie erinnere auch an einige „wesentliche Wahrheiten“ in „neoliberalen Gesellschaften“. Zum Beispiel daran, daß die Bereicherung der einen die Verarmung vieler anderer bedeute oder daß Massenarbeitslosigkeit die wirksamste Waffe der Arbeitgeberschaft sei, um die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Die eigentliche Bedeutung der Arbeitslosenbewegung liege darin, die rigide Trennung von Ausgeschlossenen („les exclus“), Arbeitslosen und ArbeitnehmerInnen aufzuheben, denn letztere seien angesichts der allgemeinen Prekarisierung „virtuelle Arbeitslose“.

Ein neuer Mandarin der Pariser Szene?

Einige Wochen später plädierten dieselben drei Autoren sowie Christophe Charle und Bernard Lacroix für eine „gauche de gauche“ (eine „linke Linke“), die nicht bloß das Geschäft der gemäßigten Rechten besorgt. Die aktuelle französische Regierungspolitik aber ändere nichts Wesentliches im Alltagsleben der meisten Menschen. Die fünf Autoren warnen davor, linke Mehrheiten hätten noch stets im Desaster geendet, wenn sie die Politiken ihrer GegnerInnen realisiert und ihre WählerInnen für „vergeßliche Idioten“ gehalten haben. Die richtigen Antworten auf die „schleichende Faschisierung“, die sie feststellen, kämen dagegen von den sozialen Bewegungen, die sich seit 1995 entwickelt haben. „Der Horizont der sozialen Bewegung ist eine Internationale des Widerstands gegen den Neoliberalismus und alle Formen von Konservatismus“, schließt dieser Artikel.

Was ist von all diesen Aktivitäten zu halten? Hat sich hier einer aufgemacht, nach Jean-Paul Sartre und Michel Foucault zum neuen Mandarin der Pariser Intelligenzija sich aufzuschwingen, als – was in Frankreich von großer Bedeutung ist – Soziologe, wohlgemerkt, und nicht als Philosoph? Die Angriffslust Bourdieus hat in diesen Wochen einen ziemlichen Wirbel in den einschlägigen Blättern der Pariser Intellektuellenszene ausgelöst. Die Angegriffenen greifen ebenso zur Waffe, also der Feder, und schießen zurück. Böse Zungen interpretieren den „kollektiven Intellektuellen“ als verkappten Majestätsplural, und zahlreich sind ohnehin die in der Seine-Stadt herumgereichten Geschichten von Ausgestoßenen und Abtrünnigen, die Bourdieu nicht als „Gott“, sondern eher als „Bourdiable“ erlebten.

Bourdieu hat zu einem großen Teil über symbolische Macht gearbeitet, und es scheint, als wüßte er sich seiner eigenen durchaus effizient zu bedienen. Mit dem Sitz für Soziologie am Collège de France, dem Centre Européenne de Sociologie, der Herausgabe von Zeitschriften und der Leitung des Verlags sowie der Gruppe „Raisons d'agir“, einem Kontaktnetz von Forschenden in aller Welt, betreibt Bourdieu eine internationale Soziologie, in der sich sehr viel Macht ballt. Dies alles mag mithin skeptisch stimmen.

Was den Neoliberalismus betrifft, so überzeugt wohl die Wahl der Zielscheibe, doch hat Bourdieu mit seinen kurzen Texten darüber bislang keine hinreichend, wie er beabsichtigt, „nützliche Waffe“ zur Verfügung gestellt. „Im Bündnis mit einer pessimistischen Anthropologie gewöhnt uns der Neoliberalismus täglich mehr an einen neuen Weltzustand, in dem soziale Ungleichheit und Exklusion wieder als Naturtatsachen gelten“, äußerte sich jüngst ein anderer „Meisterdenker“, Jürgen Habermas. Er und Bourdieu sind sich also zumindest über den hauptsächlichen gegnerischen Ismus einig. Die „Raisons d'agir“-Büchlein, die Wissenschaft und politische Militanz zu verbinden gedenken, weisen aber generell noch allzuoft eine Schlagseite zur ungenauen Polemik auf.

Dennoch ist Bourdieus Engagement zu begrüßen. Seine weiteren Aktivitäten werden jedoch an dem Maßstab zu messen sein, den er einmal selbst vorschlug: am Beitrag zur „Definition des rationalen Utopismus, der in der Lage wäre, mit der Kenntnis des Wahrscheinlichen zu spielen, um das Mögliche Ereignis werden zu lassen“.

Gregor Husi ist Soziologe und verbrachte bis vor kurzem einen Forschungsaufenthalt bei Pierre Bourdieu in Paris.