■ Die Gesellschaft hat das Recht, ein religiöses Toleranzgebot zu verlangen. Sie muß aber ebenso die individuellen Rechte sicherstellen
: Wenn aus dem Kopftuch Unrecht wird

Was macht eigentlich das Beklemmende der Stuttgarter Kopftuchentscheidung aus? Man könnte sie unter der Rubrik Nachrichten aus dem südlichen Deutschland abtun. Man könnte sie auch als Posse verorten, denn argumentiert wurde, das Kopftuchtragen produziere eine „Gefahrenlage“.

Fragwürdig ist allerdings die feministische Argumentation. Sie sorgt sich um ausländische Mädchen, die sich gegen das Kopftuch emanzipieren wollen. Rechtfertigt dies ein Berufsverbot für die einzelne Frau? Es fällt offenbar nicht auf, daß auch sie eine Gleichberechtigung im Berufsleben beanspruchen kann.

Kein demokratisch begründeter Einspruch erhebt sich angesichts der Stuttgarter Weigerung, Frau Ludin, deutsche Staatsangehörige afghanischer Herkunft, trotz ihrer bekundeten Absicht das Kopftuch beizubehalten, als Lehrerin zu übernehmen. Nein, breite Zustimmung von allen Parteien begleitet den Fall. Es heißt, Toleranz gründe auf Gegenseitigkeit, die staatliche Neutralität in Glaubensfragen sei zu wahren. Eben.

Das wirklich Beunruhigende förderte die Reaktion auf den Antrag der „Republikaner“ zu Tage, die ein generelles Kopftuchverbot verlangten. Breiter Konsens hierüber, aber kein gesetzgeberisches Handeln, weil es „sehr wahrscheinlich verfassungswidrig“ ist. Verfassungswidriges wird versucht, in einer Einzelentscheidung umzusetzen. Das allgemeine Signal soll dennoch gesetzt werden. Kann man solches Handeln noch als verfassungsgemäß bezeichnen? Ist es nicht klassisches Unrecht, wenn, um Verfassungswidriges zu vermeiden, die einzelne Person sanktioniert wird? Denn Frau Ludin kann offenbar kein islamisches Missionieren vorgeworfen werden. Sie hat von Kindern, Eltern und Schulbehörde unbeanstandet während ihres Referendariats unterrichtet.

Der Vergleich mit der Kruzifix- Entscheidung des höchsten Gerichts trägt nicht. Dort handelt es sich um die generelle, staatlich angeordnete Entscheidung, jedes Schulzimmer zu bekreuzigen. Hier geht es um die individuelle Entscheidung einer Person, sich aus kulturellen oder religiösen Gründen mit dem Kopftuch zu bekleiden. Wurden die Schülerinnen und Schüler dort ohne Ausweichmöglichkeiten gezwungen, unter dem Kreuz zu lernen, besitzt das Kopftuch einer Lehrerin keine „Unausweichlichkeit“. Streitig ist hier ja schon, ob es sich bei dem Kopftuch überhaupt um ein religiöses Symbol handelt. Es sind die wuchtigen Beschlüsse, die beklemmen und das Rechtsgefühl verletzen. Geht es nicht letztlich doch um Assimilationsdruck auf Ausländerinnen, ohne wirklich assimilieren zu wollen. An Bürgerrechte wie das Staatsbürgerschaftsrecht wird ja nicht gedacht. Es wird eine fundamentale Entscheidung beklatscht, die als individuelles Unrecht daherkommt. Ist das ganze bloße Deutschtümelei oder ist die Frage anders zu stellen, nämlich: Was heißt eigentlich Toleranz im demokratischen Verfassungsstaat? Wäre nicht jetzt die Gelegenheit, die große Debatte über Toleranz beziehungsweise über kulturelle, religiöse oder kollektive Identität zu führen?

Otto Kallscheuer hat daran erinnert, daß angesichts des globalen Austauschs von Waren, Informationen, Kommunikation und Dienstleistungen, traditionelle kollektive Identitäten gefährdet sind. Während Unternehmen quer über den Globus transnational tätig sind, klammert sich die Politik an alte ordnungsrechtliche Konzepte. Der diskriminierende Vorschlag des stellvertretenden CSU- Generalsekretärs Hermann, gute und bösen Türen bei der Ausländerbehörde einzurichten, war ja nichts anderes als der Versuch, dieses Problem auf seine, nämlich CSU-Art zu behandeln. Globalisierungsgewinner werden akzeptiert, andere Ausländer nach bewährt ausländerrechtlich-polizeilichem Muster abgefertigt. Hieran zeigt sich nur, daß der Nationalstaat für bestimmte Phänomene keine ausgewogenen Antworten mehr hat. Menschen müssen zwar nach wie vor Grenzen überwinden, dennoch folgen sie den Waren- und Finanzströmen.

So gesehen könnte die Kopftuchentscheidung auch als verfehlte Reaktion auf Ängste aufgefaßt werden, und zwar im Sinne der Bemühung, vermeintlich festumrissene Identitäten nicht aufzuweichen. Dabei liegt es auf der Hand, daß mit solchen ordnungsrechtlichen Instrumenten eher die Freiheit in Gefahr gerät, als daß Tradiertes bewahrt werden kann.

Toleranz im liberalen demokratischen Verfassungsstaat bedeutet zweierlei. Erstens muß sichergestellt werden, daß allgemeingültige Werte und Rechtsnormen auch von jedem einzuhalten sind. Dies betrifft selbstverständlich Menschenrechte im engeren Sinne, wie etwa das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Genitalverstümmelungen dürfen nicht hingenommen werden. Täter und Täterinnen müssen bestraft werden, auch wenn anderswo diese Praktiken kulturell anerkannt sind. Auch die Benutzung des Kopftuches zum aktiven Missionieren für den Islam verstieße im schulischen Alltag gegen das religiöse Toleranzgebot. Ob es aus fundamentalistischem Bekennertum oder weil kulturell überliefert getragen wird, muß jeweils konkret bewertet und entschieden werden.

Zweitens sind Freiheit und Pluralismus zu verteidigen. Fundamentalismus ist auch Ausdruck von Sehnsucht nach geschlossenen Gemeinschaften, bei denen sich verschiedene Kulturen noch nicht vermischt haben. Hautnahe Begegnungen mit Differenz haben etwas Beunruhigendes. Eine Antwort auf diese Beunruhigung ist das ständige Verhandeln über Rechte der Gruppe und die Rechte des Individuums.

In Deutschland wird gerne auf die Einhaltung von Gesetzen gepocht, was für sich allein in Ordnung ist. Es fehlt jedoch der Geist der Freiheit und Toleranz, wenn es um kulturelles Anderssein geht. Integration wird hierzulande nicht bürgerrechtlich buchstabiert, sondern ethnisch.

Schon sind „Ghettobildungen“ in den Städten eine Angriffsfläche, um gegen sie mit Quotierungen vorzugehen. Dabei ginge es doch nur darum, den Wunsch der Einwanderer nach Zusammenleben zu akzeptieren. An der Vielfalt von kulturellen und religiösen Traditionen hat sich der plurale Verfassungsstaat zu bewähren. Toleranz ist in dieser Sicht als „Konfliktschlichtungsmechanismus“ in der modernen Gesellschaft zu sehen.

Es spricht deshalb vieles dafür, Frau Ludin mit ihrem Kopftuch als Lehrerin in den Schuldienst zu übernehmen. Birgit Laubach