Weder Rauchen noch Bier trinken ist verboten

In Neukölln hat vor sechs Wochen das erste Berliner Sterbehospiz eröffnet. Platz ist für 15 unheilbar Kranke. Wer hierherkommt, dem bleibt maximal ein halbes Jahr. Die HospizmitarbeiterInnen wollen dennoch den Abschied vom Leben so würdevoll wie möglich gestalten  ■ Von Sabine am Orde

In der Morgensonne summen zwei Bienen über Geranien und Männertreu, hinter den Blumenkästen leuchten die roten Ziegeldächer Neuköllns. Auf der Dachterrasse sitzt Rosemarie Dettweiler in einem grünen Plastikstuhl. Ihr dunkelrotes Haar ist frisch getönt, das Gesicht darunter schmal, die Nase spitz, die Haut durchsichtig. In den Ohrläppchen stecken kleine Perlen. „Eigentlich wollte ich schon im Krankenhaus sterben“, sagt die 65jährige, „aber das hat nicht geklappt.“

Rosemarie Dettweiler hat Krebs, seit vielen Jahren schon. Vor fünf Jahren entfernten die Ärzte eine Brust, die Krankheit schien besiegt. Doch nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes brach der Krebs wieder aus. Inzwischen hat er ihren schmalen Körper fast überall befallen. Für Dettweiler gibt es keine Heilungschance mehr. „Deshalb haben sie mich im Krankenhaus nach Hause geschickt, aber da bleiben konnte ich nicht.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie schluckt. „Schließlich bin ich ein Pflegefall.“

Neben Dettweiler sitzt Carola Brett. Langsam streicht ihre Hand über den dünnen Arm der kranken Frau. „Bei uns ist es doch auch ganz schön“, sagt die resolute Frau und lächelt aufmunternd. Rosemarie Dettweiler lächelt tapfer zurück: „Wenn man sich einmal damit abgefunden hat, hier zu sein.“

Seit zwei Wochen lebt die krebskranke Frau im Hospiz in der Neuköllner Delbrückstraße. Vor sechs Wochen hat es als erste Einrichtung dieser Art in Berlin eröffnet. Platz ist hier für 15 unheilbar Kranke mit einer Lebenserwartung unter einem halben Jahr, die nicht zu Hause betreut werden können. Für solche Kranke gab es lange keinen Ort. Von den Krankenhäusern wurden die PatientInnen, bei denen keine Therapie mehr möglich ist, nach Hause geschickt. Was blieb, war die häusliche Betreuung oder das Pflegeheim. Zwar haben einige Kliniken wie die Charité und das Auguste- Viktoria-Krankenhaus inzwischen sogenannte Palliativstationen eingerichtet, doch der Aufenthalt auf diesen Stationen für Schmerzlinderung ist zeitlich begrenzt, denn er ist teuer: In Berlin kostet der Aufenthalt auf einer Palliativstation durchschnittlich 1.000 Mark pro Tag und Patient.

Für die Kranken soll das Hospiz ein „Ersatz-Zuhause“ sein, in dem sie so würdevoll wie möglich sterben können. Anders als im Krankenhaus gibt es in den sonnengelb gestrichenen Räumen, die von der Dachterrasse umgeben sind, keine Apparatemedizin und lebensverlängernden Maßnahmen, aber Pflege, Schmerztherapie und eine Menge Zuwendung. Längst sind alle 15 Zimmer belegt, die Warteliste wächst. Durchschnittlich sechs Tage vor ihrem Tod haben die PatientInnen bislang hier gelebt, die jüngste von ihnen war 33.

Carola Brett ist eine der beiden Geschäftsführerinnen des Hospizes. Jahrelang hat die Krankenschwester – wie ihre Kollegin Dorothea Becker – im Neuköllner Krankenhaus erlebt, wie wenig Zeit im Klinikalltag für die Betreuung Sterbender bleibt. Seit sechs Jahren ackern Brett und Becher für eine Alternative. Sie sammelten Fachkräfte und Ehrenamtliche um sich, organisierten eine gemeinnützige GmbH als Trägerin und gewannen schließlich die Ärztekammer als Unterstützerin. „Der Zeitfaktor ist das Wesentliche, was wir mitbringen“, sagt Brett, die mit ihrer weißen Hose und gleichfarbigen Schlappen immer noch wie eine Krankenschwester aussieht. „Im Krankenhaus hatten wir zum Beispiel beim Waschen zehn Minuten pro Patient, jetzt kann es eine halbe Stunde sein. Und wenn auf der Dachterrasse jemand sitzt und weint, weil der Sohn zu Besuch ist und die Wohnung ausräumt, dann habe ich Zeit, darauf einzugehen.“

Eine Sozialarbeiterin und 12 AltenpflegerInnen und Krankenschwestern arbeiten im Hospiz, 15 sollen es bald sein. Homecare-Ärzte und Seelsorger kommen bei Bedarf von außen hinzu. Eigentlich war der Einsatz von 18 Pflegekräften geplant, „aber das ist im Augenblick nicht drin“, sagt Brett und nimmt einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. „Noch ist die Finanzierung zu unsicher.“ 520 Mark kostet ein Hospizplatz pro Tag und Patient, zehn Prozent davon muß das Hospiz – so will es das Sozialgesetzbuch – durch ehrenamtliche Arbeit und Spenden selbst aufbringen. 260 Mark zahlen die Krankenkassen, je nach Pflegestufe kommen 66 bis 93 Mark aus der Pflegekasse hinzu. Außerdem muß sich jeder Patient mit 74 Mark pro Tag selbst beteiligen. Bleibt eine Deckungslücke von fast 50 Mark. Die Geschäftsführerin hofft, daß die Krankenkassen diese mittelfristig füllen werden. Schließlich sei das Hospiz dann noch immer viel billiger als das Krankenhaus. „Eigentlich sollten die Spenden ja für zusätzliche Angebote wie Musiktherapie sein, aber noch brauchen wir sie, um jeden Tag neu zu überleben.“

Rosemarie Dettweiler schläft viel. Wenn sie erst um elf Uhr aufwacht, ist das kein Problem, auch nicht, wenn sie vor dem Waschen frühstücken will. Den Tagesablauf im Hospiz bestimmen nicht Arztvisiten und Untersuchungen, sondern die Wünsche der PatientInnen. Dettweiler gefällt ihr kleines Zimmer mit den rosafarbenen Wänden, den hellen Holzmöbeln und dem gemusterten Vorhang. Ihren Lieblingssessel samt Hocker hat sie sich von zu Hause kommen lassen, dazu ein paar Pflanzen. Auf dem Fernseher lächeln Sohn, Schwiegertochter und Enkelkind von einem Foto, ihr verstorbener Mann und sie selbst von einem zweiten. Andere PatientInnen haben Marienstatuen und Heiligenbildchen, Puppen und Bilder mitgebracht. Zu nah an die anderen HospizbewohnerInnen will Rosemarie Dettweiler nicht ran. „Es ist schrecklich, wenn wieder eine Kerze vor einer Tür steht“, sagt sie, und wieder schießen ihr Tränen in die Augen. Die Kerze ist im Hospiz das Zeichen dafür, daß jemand gestorben ist.

In Dettweilers Zimmertür, die wie die meisten anderen offen ist, tritt eine kleine Frau mit hellblauem Kittel und grauem Bürstenhaarschnitt. „Hilde Friederichs“ steht auf dem Button an ihrer Brust. „Wollten wir nicht essen?“ fragt „die Vollzeit-Ehrenamtliche“, wie Friederichs gern von den Hauptamtlichen genannt wird. Sie lockt Dettweiler in die Wohnküche des Hospizes, wo es Linsensuppe gibt. Das haben sich die meisten PatientInnen gewünscht.

Rund 30 Ehrenamtliche helfen im Hospiz, die meisten von ihnen sind Frauen. Die Jungen sind Fachkräfte aus den Pflegeberufen oder Studentinnen, die beruflich mit Tod zu tun haben und unzufrieden sind mit dem Umgang damit. Die Älteren sind Hausfrauen aus dem Kiez oder – wie Friederichs – Rentnerinnen, die froh über eine sinnvolle Aufgabe sind. „Wir haben aber auch eine ehrenamtliche Friseurin, eine Fußpflegerin und einen, der Fußreflexzonenmassage beherrscht“, sagt Claudia Gerlach- Jäckel, die die Ehrenamtlichen betreut. Auch eine Kunsttherapeutin habe ihre Unterstützung zugesagt. „Die Ehrenamtlichen machen etwa ein Drittel der Arbeit“, schätzt Gerlach-Jäckel. „Ohne sie wären wir aufgeschmissen.“ Je nach Lust und Befähigung gießen sie Blumen, decken Tische oder sortieren Wäsche ein, lesen vor, füttern oder hören zu.

Helga Friederichs raucht am liebsten mit den PatientInnen, weil man dabei Ruhe zum Reden hat. „Das sollen sie nicht alleine machen, weil zu leicht eine brennende Zigarette runterfallen kann“, sagt sie. Aber verboten ist weder rauchen noch Bier trinken. „Wir wollen persönliche Bedürfnisse doch befriedigen, soweit es geht“, sagt die Ehrenamtliche und setzt sich zu zwei Patientinnen im Rollstuhl an den Tisch. „Die letzten Tage sollen doch so schön wie möglich sein.“ Daß in einem Sterbehospiz nicht alles schön sein kann, weiß aber auch Friederichs: Auch aggressive Kranke und nervige Angehörige gehören zum Alltag im Hospiz. Die Vollzeit-Ehrenamtliche will bald eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin machen, einen etwa einjährigen Kurs, der neben dem Umgang mit Sterbenden und Trauerarbeit mit Angehörigen auch das eigene Leben reflektiert. „Man braucht schon etwas Klarheit darüber als Sterbebegleiterin“, sagt Gerlach-Jäckel.

Die Arbeit im Hospiz hat nichts mit Sterbehilfe zu tun. Von Handlungsreisenden in Sachen Zyankali, wie der „Gesellschaft für Humanes Sterben“, grenzt sich das Hospiz klar ab. „Menschen wollen sterben, weil sie Angst haben, jemandem zur Last zu fallen, dahinzusiechen oder allein zu sein“, sagt Carola Brett. „An den Bedingungen muß man etwas ändern und sonst nichts.“ Dieser Gedanke trieb auch die Ärztin Cicley Saunders, die 1967 in London das erste Hospiz gründete. Erst 20 Jahre später setzte sich diese Idee auch hierzulande durch. Inzwischen gibt es bundesweit 43 stationäre Hospize, die meisten von ihnen in Nordrhein-Westfalen. Zuerst kümmerte sich die Hospizarbeit vor allem um Krebspatienten, heute werden auch viele Aids-Patienten betreut. Auch in Berlin wurde jüngst für ein Hospiz für Aidskranke der Grundstein gelegt. Hinzu kommen etwa 15 Hospizvereine, die Sterbende und ihre Angehörigen ambulant begleiten.

Rosemarie Dettweiler ist vom Essen zurück und erschöpft. „Aber ich muß noch aufräumen“, sagt sie und schiebt den Sessel ein wenig zurecht, „wenn der Besuch heute nachmittag kommt.“ An diesen hat Carola Brett sie gerade erinnert; inzwischen vergißt die Krebskranke viel. Angesagt haben sich nicht, wie sonst fast täglich, ihre Berliner Freundinnen, sondern ihr Sohn samt Familie aus Stuttgart, dazu eine Tante und eine Nichte aus Berlin. „Mein Sohn will, daß wir im Rixdorfer Brauhaus gegenüber essen gehen, aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, sagt sie müde. „Aber es wäre schön, noch einmal auszugehen.“

Ricam-Hospiz, Delbrückstr. 22, 12051 Berlin, Tel. 6288800