Raub und Reise der Helena

Ein Helen = 1.000 Kilogramm Sprengstoff. Geschichte beginnt damit, daß die einen den anderen die Frauen wegnehmen. Von den Abenteuern alleinerziehender Mütter, weiträumig durchs Abendland streifend. Fallstudien zur Rekonstruktion eines Mythos  ■ Von Helmut Höge

Gemessen daran, was der flüchtende deutsche Kriegsgefangene auf seiner dreijährigen Wanderschaft vom äußersten Nordosten Sibiriens durch die öden Tundren und die undurchdringliche Taiga bis zur persischen Grenze erlebte, waren die legendären Abenteuer des homerischen Helden Odysseus regelrecht harmlos“, heißt es im Rowohlt-Klappentext zu J. M. Bauers Bestseller „So weit die Füße tragen“, der 1962 als ARD-Serie erster deutscher „Straßenfeger“ wurde.

Mit Homer hub das abendländische Ich und seine Schriftkultur an. Nach Claude Lévy-Strauss entsteht Kultur dort, wo die Männer über den Austausch von Frauen eine Beziehung untereinander herstellen. Und Geschichte beginnt damit, daß die einen den anderen die Frauen wegnehmen. Zuerst wird Io, die Königstochter von Argos, von den Phoinikern geraubt (sagen die Perser), dann wird Europa von den Hellenen gekidnappt und gleich danach auch noch die Medea in Kolchis. Im zweiten Geschlecht wird dann Helena von Paris geraubt, was den Trojanischen Krieg, die Irrfahrt des Odysseus und die homerischen Gesänge darüber zur Folge hat. Der Geschichtserzähler Herodot fand es übertrieben, daß man wegen eines Frauenraubs gleich einen Krieg beginnt. Er gab den Griechen deswegen die Hauptschuld an den ganzen Feindseligkeiten. Die Phoiniker behaupteten daneben etwas anderes: Ein Schiff habe angelegt, und die Königstochter Io hätte sich in den Kapitän verliebt, sei schwanger geworden und dann freiwillig mit ihm gegangen.

Schon seit Beginn der Geschichte gibt es also diese große Unsicherheit: War es Frauenraub, -handel gar oder freie Entscheidung? Die Frage, ob die Frauen Subjekt oder Objekt der Handlung sind, ist bis heute nicht entschieden. Auch die feministische Forschung hat sie bisher nur mehr oder weniger summarisch, ideologisch, beantwortet: beispielsweise, indem sie sich als „Fachkommission Frauenhandel“ für Aufenthaltsgenehmigungen ausländischer Prostituierter – ausschließlich im Sinne eines Zeuginnenschutzes bei Aussagen in Schlepperbanden-Prozessen – stark macht. Höchstenfalls werden die Opfer des Handels noch als „Arbeitsimmigrantinnen“ angesehen, denen Polizei und Zuhälter gleichermaßen übel zusetzen, wie die russische Feministin Emma Goldmann dies schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts konstatierte – und die Hurengruppe „Hydra“ Ende 1995.

Der Raub der schönen Helena hatte wohl die bisher gravierendsten Folgen für unsere Kultur. US- Gräzisten entwarfen dafür eine sogenannte „Helen“-Skala: 1 Helen ist danach das Maß an Schönheit, das notwendig ist, um eine feindliche Flotte zu vernichten. Wobei das „Schöne“ seit der Antike zugleich „gut“ ist und insofern auch „wahr“, was neulich gerade der Berliner Philosoph H. Böhringer wieder bedauerte. Für den Empiriker ist dies jedoch von Vorteil: Der ewige Streit um ihren „Raub“ wird langsam, aber sicher entscheidbar.

Die Helena, von der ich rede, ist knapp 26 Jahre alt und studierte Englisch in Jakutsk, der Hauptstadt der Republik Jakutien im äußersten Nordosten Sibiriens. Von dort zog sie nach Irkutsk. Manche sagen, sie wurde bereits dorthin entführt, und zwar von ihrer Großmutter, bei der sie dann aufwuchs. In Irkutsk heiratete sie und gebar ihre Tochter Janna. Bald darauf verlor ihr Mann seine feste Stellung in der Gebietsverwaltung und wurde Handlungsreisender. Im Tanz-Hotel „Angara“ lernte Helena einen ausländischen Wissenschaftler kennen, mit dem sie – „mehr aus Müdigkeit“ – aufs Zimmer ging. Der privatisierte Wachdienst, einst KGB, verlangte von ihr dafür anderntags die Hälfte des Honorars – „mindestens jedoch fünfzig Dollar“. Sie tat sich daraufhin mit einer Freundin zusammen, die bereits als „businesswoman“ im Sexbusineß tätig war. Helena freundete sich mit einem Georgier an, der viel in den Hotelbars der Stadt herumsaß – jedoch „autonom und einsam“ aussah. Der Georgier überredete Helena, mit ihm nach Perm zu gehen, wo es geschäftsmännermäßig günstiger zuginge. Helena organisierte eine regelrechte Flucht für ihn und sich, was sie bis heute der Irkutsker Irrealität zuschreibt: „Es gab eigentlich keinen konkreten Grund dafür. Vielleicht war es romantischer?“ Es gelang ihrem Mann dann, Kontakt mit ihr in Perm aufzunehmen. Er besuchte sie dort. Perm hatte sich zu jener Zeit zu einer „Banden-Hochburg“ entwickelt. Zudem ängstigte sie das Schweigen des Georgiers. Ihr Mann brauchte sie nicht lange zu drängen, mit ihm nach Moskau zu ziehen. Sie blieben aber nicht lange in Moskau, sondern gingen nach Kaliningrad. Von dort machten sie einmal Urlaub am Roten Meer. Ihr Mann, inzwischen Makler, war von einem ägyptischen Bankier eingeladen worden, der mit ihm ein Währungsgeschäft mit jugoslawischen Dinaren abwickeln wollte. Helena lernte dort tauchen. Jemand meinte einmal, sie sei „eitel und herzlos“ gewesen. Das stimmt nicht, sie kann nur mit Geschäften, die vom Geld aus gedacht wurden, wenig anfangen. Auch das andere Ende der Wertschöpfung läßt sie fast gleichgültig: Laufend schenkt sie z.B. irgendwelchen Leuten Geld, und Klamotten besitzt sie kaum – geschweige denn Geschmeide.

Von Kairo zurück in Kaliningrad, zerstritt sie sich mit ihrem Mann. Dieser fuhr daraufhin wieder nach Irkutsk, wo ihre Tochter bei seinen Eltern lebte. Helena lernte kurz darauf in Kaliningrad eine Frau kennen, mit der sie immer noch befreundet ist und jetzt auch zusammenlebt: Antonia. Die 37jährige Ökonomin kommt aus Odessa und hat ebenfalls eine Tochter, Olga, die bei einer Freundin in Odessa lebt. Antonia, die jiddisch und deutsch spricht, überredete Helena, mit ihr nach Deutschland zu gehen. Ihre Zugreise endete jedoch in Slubice, wo sie einen „Kontaktmann“ verpaßten, der Helena über die Grenze helfen sollte: „Ich stand weinend an der Oder!“ so Helena. Antonia erzählt: „Ich war zwei Jahre zuvor mit Touristenvisum in Deutschland eingereist und hatte dort über eine Bekannte einen Mann kennengelernt, den ich wegen der erforderlichen Aufenthaltspapiere heiratete. In Rußland macht man das schon seit über 150 Jahren. Ich wollte in Berlin arbeiten, als Ökonomin mit schlechtem Deutsch ist das sicher schwer, aber nicht unmöglich. Ich fand Arbeit in einer Oben-ohne-Bordellbar. Nach Kaliningrad bin ich gekommen, weil ich einen Kölner Geschäftsmann begleitete, der kein Russisch konnte. Dort ist er mir aber zu unangenehm geworden, und ich wollte alleine zurück. Helena hat sich mir angeschlossen, obwohl ich ihr gesagt habe, daß das nicht einfach für sie werden wird. In Slubice ließ Antonia sie schließlich allein, gab ihr jedoch noch ihr letztes Geld: 280 Dollar. Helena fuhr damit nach Swinemünde, wo sie dann in einem Grenzbordell arbeitete. Dort lernte sie drei Weißrussen kennen, die ihr versprachen, sie nach Berlin zu bringen: für 22.000 Mark, die sie in 36 Monatsraten zurückzahlen sollte. Dazu mußte sie in einer Bordellkette in Neukölln arbeiten, wo sie dann auch ganz gut verdiente, sie wollte jedoch lieber mit Antonia zusammensein, die in Prenzlauer Berg arbeitete.

Manchmal besuchte Helena sie dort morgens um fünf noch, wenn sie Feierabend hatte: „Antonia sitzt da meistens wie ein Buddha an der Bar. Wie eine weise Frau. Ihre großen Brüste liegen auf ihrer Bauchfalte, dabei trinkt sie langsam, aber zügig ein Bier, raucht viel und beobachtet alle – hellwach – und merkt sich deutsche Wörter. Die Mädchen sind jünger als sie, zu ihr haben alle Vertrauen.“ Auch die Frau hinter der Theke, eine deutsche Blondine, die einen Bikini trägt: Jutta. Sie hatte bereits in der DDR mit Arabern zu tun und lebt jetzt mit einem Westberliner Araber zusammen, der im Milieu arbeitet. Sie spricht fließend arabisch und inzwischen auch russisch, ihr Hobby ist jedoch Mathematik, das will sie demnächst auch studieren. Antonia nennt Jutta „schwarzer Fuchs“, weil sie als einzige nicht rasiert ist.

Da, wo Helena zunächst arbeitete, „war alles anders – viel brutaler und langweiliger auch“. Eines Tages kam dort mehrmals nacheinander ein junger Mann namens Jürgen hin. Helena erzählte er, er sei Speditionskaufmann. An einem Sonntag besuchte sie mit ihm den Rummel am Lützowplatz, anschließend lud er sie zum Essen in ein russisches Restaurant. Er hatte sich in sie verliebt und wollte sie „da rausholen“. Er wurde immer anstrengender, zugleich knausriger. Einmal ging er mit ihr in eine Kneipe, wo er sie mit seinem Freund Bernd, „einem Journalisten“, bekannt machen wollte. Bernd stellte laufend Fragen: Warum und wie sie nach Berlin gekommen sei, wieviel sie dafür zahlen müsse, an wen usw. Helena wurde immer verstockter. Als auch noch Jürgen in sie drang, verließ sie die beiden unter einem Vorwand. Jürgen lief ihr nach und entschuldigte sich, das kam ihr verlogen vor: Sie dachte, er habe von Bernd Geld bekommen, um ihm dafür eine gute Story zu liefern. Vier Tage später machte die Polizei eine Razzia in dem Neuköllner Etablissement, in dem Helena arbeitete. Als man sie festnahm und nach draußen in einen der Mannschaftswagen abführte, sah sie etwas abseits Bernd stehen, in einer Weste, auf der das Wort „Polizei“ stand. Sie erschrak: „Jetzt ist alles verloren und meine fiktive Existenz aufgeflogen!“ Später übersetzte ihr der Polizei-Dolmetscher Aussagen, die nur von Bernd stammen konnten. Gleichzeitig bot man ihr Haftverschonung und Nichtausweisung an, wenn sie die Hintermänner des Bordells bzw. ihre Helfer, die sie nach Deutschland gebracht hatten, nennen würde. Der „Verrat“ von Jürgen erboste sie jedoch derart, daß sie, statt alles zu bestätigen und Namen zu nennen, nichts sagte und einen Anwalt verlangte. Der wurde dann von den Neuköllner Bordellbetreibern und ihren dortigen Kolleginnen in Marsch gesetzt, die auch Helenas fiktiven Ehemann „bearbeiteten“, so daß er zur Polizei ging, um seine Ehefrau „da rauszuholen“. Der Anwalt fand später heraus, daß auch Jürgen ein Polizist war. „Dieses Schwein, wenn ich die Russen verraten hätte in meiner Not, die hätten mich umgebracht – hundertprozentig“, meinte Helena hernach. Als die ganze Geschichte endlich ausgestanden war, wollte sie jedoch nicht mehr „für Zucker“ in das Neuköllner Bordell zurück, sondern wenn, dann höchstens in Antonias Oben-ohne-Bar. Für diesen „Arbeitsplatzwechsel“ mußte sie sich noch einmal mit über 4.000 Mark verschulden, wovon ihr fiktiver Ehemann die Hälfte bekam, da er sich so für sie ins Zeug gelegt hatte.

Aber da sitzt sie nun – an der Bar, neben Antonia. Beide trinken Bier, Helena hat angefangen zu rauchen, Antonia hat jedoch gerade mal wieder damit aufgehört – und ißt statt dessen in regelmäßigen Abständen Schokoriegel. Zu mir sagt sie: „Stell Helena keine blöden Fragen, gib ihr lieber einen aus, sie hat das Geld nötig.“ „Brauchst du nichts?“ Antonia guckt mich mit ihren schrägstehenden Augen an und streicht sich über die roten Haare: „Ich habe es ganz alleine hierhergeschafft, deswegen geht es mir finanziell besser. Arbeit gibt es dort jedoch nicht, und es ist gefährlich. Ich habe es aber hier auch nicht leicht. Ich bin zu alt für diesen Job. Meine Tochter ist 14 und will gut angezogen sein. Das ist teuer. Und dann kostet ein 5-Kilogramm-Paket jedesmal 90 Mark und auch jede Geldüberweisung ein kleines Vermögen. Meine Mafia – ist mein Kind!“