■ Politiker und Journalisten im Wahlkampf – bloß nichts sagen
: Furcht vor Präzision

Jürgen Trittin darf nicht sagen, daß ihn öffentliche Rekrutengelöbnisse an die schlimmsten Zeiten des deutschen Militarismus erinnern. Das paßt zwar zu den Wurzeln der Grünen in der Friedensbewegung – aber nicht in den Wahlkampf. Das könnte Durchschnittsbürger verschrecken. Trittin soll also lieber schweigen. Edmund Stoiber von der CSU darf nicht sagen, daß er Autobahnvignetten gut findet als Mittel, den Straßenbau zu finanzieren. Das ist zwar kein schlechter Vorschlag, um die öffentlichen Kassen zu entlasten – aber eben nicht im Wahlkampf. Das könnte deutsche Autofahrer verängstigen. Stoiber soll lieber den Mund halten. Jost Stollmann, im Wahlkampfteam der SPD zuständig für das Ressort Wirtschaft, darf nicht sagen, daß er Subventionen für den Steinkohlebergbau zu teuer findet. Das wissen zwar alle, könnte aber brave Gewerkschafter irritieren. Stollmann soll besser stillbleiben.

In diesem Jahr berichten Journalisten am ausführlichsten darüber, was Politiker nicht hätten sagen dürfen. Aussagen über das künftige Handeln im Bundestag werden kaum noch gefordert – Versprechen für den Fall der Regierungsbildung gelten ohnehin als unglaubwürdig. Wer Zeitungen liest, Radio hört oder fernsieht, stellt fest, daß die meisten Korrespondenten heute so urteilen, als wären sie Mitarbeiter der Parteizentralen. Sie haben die Perspektive der Herren Hintze, Westerwelle und Müntefering verinnerlicht. Inhalte sind nicht so wichtig. Programmatische Auseinandersetzungen sind kompliziert und reißen keinen mit. Also vergeben wir jetzt lieber Noten für geschicktes Taktieren im Wahlkampf. Glätte gilt jetzt als Professionalität. Die Bereitschaft zur nicht ganz so bequemen Position gilt als Defätismus.

Der Konsens der deutschen Medienlandschaft ist: Es kommt nur darauf an, Politik zu verkaufen. Was Erfolg hat, ist richtig und darum geradezu moralisch geboten. Politiker, die das nicht beherzigen, werden gnadenlos bloßgestellt. Dabei gibt es doch im deutschen Reformstau auch ernste Fragen: die Belebung und Flexibilisierung des Arbeitsmarkts? Der Umbau des Sozialstaats? Neue Strukturen im Steuersystem? Kürzere – aber zugleich bessere – Hochschulausbildung? Gibt es dazu nichts mehr zu sagen? Nur weil die Wahlkampfmanager diese Themen meiden? Die Parteizentralen fürchten Präzision – und haben ausgerechnet in den Medien treu dienende Aufpasser gefunden, die alle Parteifreunde zusammenstauchen, die aus der Reihe tanzen. Und dabei spielen alle mit.

Erst im Wochenendkommentar wird dann wieder über Politikverdrossenheit geklagt, die eine derart unsachliche Wahlkampfberichterstattung mit erzeugt. Hans Dembowski

Der Autor ist Redakteur der Deutschen Welle in Köln