Massengräber jetzt auch im Kosovo entdeckt

■ taz-Reporter stößt bei Orahovac auf hunderte Leichen. Augenzeugen sprechen von bis zu tausend Toten. Von den Opfern sollen allein 430 Kinder gewesen sein. Serben erobern bei Offensive weitere UCK-Bastion

Orahovac (taz) — Der Gestank der Leichen ist aus der Ferne schon zu riechen, angesichts der großen Hitze ist die Verwesung schon weit fortgeschritten. An einer Stelle sind Pfosten mit Nummern angebracht, an anderen Stellen nicht. In diesen Massengräbern, nur rund 700 Meter von der Stadtgrenze Orahovac' entfernt, sind, so sagen Augenzeugen, bisher 567 Menschen verscharrt worden. Die Gräber befinden sich inmitten von Weinbergen an der Straße nach Suva Reka und dienten bislang als Mülldeponien. Unter den 567 Getöteten sollen sich auch die Leichen von 430 Kindern befinden. Weitere Tote sind noch nicht begraben.

Serbische Truppen hatten vor zwei Wochen die mehrheitlich von Kosovo-Albanern bewohnte Stadt nach kurzen, aber heftigen Kämpfen eingenommen. Nach Schätzungen von verbliebenen Einwohnern sollen in Orahovac in den Tagen vom 18. bis 21. Juli bis zu 1.000 Menschen getötet worden sein.

Bisher hatte die serbische Seite die Kämpfe in Orahovac als einen Abwehrkampf von serbischen Polizisten gegenüber Angriffen der Kämpfer der albanischen Befreiungsarmee UCK dargestellt. In der Tat griffen am 17. Juli Einheiten der Befreiungsarmee die Stadt an und umzingelten die dort befindliche Polizeistation. Am 18. Juli erreichten 700 Mann der Truppen des serbischen Innenministeriums (SAJ - Spezielle antiterroristische Einheiten) die Stadt und begannen, die UCK- Kämpfer zurückzudrängen. Nach Augenzeugenberichten benutzten die serbischen Truppen dabei viele Menschen als Geiseln und als lebende Schutzschilder. An den folgenden Tagen wurde jedes Haus durchsucht. Dabei sei es zu regelrechten Massakern an albanischen Zivilisten gekommen, ganze Familien seien ausgerottet worden, berichten nichtalbanische Anwohner. 25.000 Menschen flohen damals in Panik aus der Stadt in Richtung der bald darauf angegriffenen Stadt Milishevo. Jetzt leben die meisten dieser Flüchtlinge in den Wäldern Zentralkosovos.

Nach Aussagen von Mitgliedern des zur Bestattung der Ermordeten gebildeten Teams werden noch immer Leichen aus Kellern und anderen Orten in Massengräber transportiert. Außer der bis Montag bekannten Anzahl von 567 Getöteten seien auch zwei Lastwagen mit Leichen in die nahe gelegene Stadt Przren geschafft worden. Kurz vor der Ankunft einer russischen und US-amerikanischen Delegation deckten Bulldozer zwei der vier nahe der Straße befindlichen Massengräber mit Erde zu. Bei Ankunft der Jounrnalisten verließ einer der Bulldozer gerade die Massengräber.

Daß die Leichen auf einer Mülldeponie verscharrt wurden, ist für das serbische Vorgehen nicht ungewöhnlich. Auch in Bosnien-Herzegowina wurden die Ermordeten in Massengräbern verscharrt. Die Identifizierung der Leichen ist damit fast unmöglich gemacht.

Unterdessen haben gestern jugoslawische Truppen ihre Offensive im Kosovo fortgesetzt und dabei nach eigenen Angaben die Hochburg der kosovo-albanischen Befreiungsarmee (UCK), Lausa, eingenommen. Die UCK-Kämpfer in Lausa seien „ausgeschaltet worden“, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Tanjug. Bei den Kämpfen seien sechs Albaner getötet worden, berichtete die in Priština erscheinende Zeitung Bujku. Albanischen Quellen in Priština zufolge stand das Dorf Lausa gestern in Flammen. Zehntausende Menschen seien im Drenica-Gebiet, das nahezu vollständig von serbischen Sondereinheiten kontrolliert werde, auf der Flucht. Die Polizei brenne deren verlassene Häuser nieder.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR wollte gestern mit einem Hilfskonvoi Trinkwasser, Babynahrung und Medikamente zu den Flüchtlingen in der Nähe von Malishevo bringen. In dem Gebiet sind nach UNHCR-Angaben seit dem vergangenen Wochenende etwa 30.000 Menschen auf der Flucht. Der Sprecher des UNHCR, Stefan Telöken, warnte vor einer menschlichen Katastrophe im Kosovo. Nach seinen Worten lassen serbische Polizeikontrollen Hilfskonvois zu den Flüchtlingen oft nicht durch. In umkämpften Gebieten könne zudem keine Sicherheit für die Helfer gewährleistet werden. Erich Rathfelder