Erhöhte Spannung durch Sicherheit

Auf ihrer neuen Platte „Dead School Hamburg (Give me a Vollzeitarbeit)“ pflegen die Goldenen Zitronen einen auffällig unpersönlichen Zugang zu ihren Themen  ■ Von Carsten Hellberg

Sie sind Konzeptionalisten. Sie arbeiten thematisch, greifen musikalische Haltungen auf und benutzen unterschiedliche Techniken. Sie denken aus der Musikgeschichte heraus, filtern Attitüden, brechen Schemen und bestätigen Klischees. Ihr Band-Wolf ist gleichzeitig so subtil und so gewaltig, daß alles, was da rauskommt immer noch nach seiner Herkunft riecht, aber nach Zitronen stinkt. Nach all den Jahren haben sie einen Weg gefunden, sich immer wieder neu zu entwerfen: eine Methode, die ihnen Sicherheit gibt, weil sie sich der Stärken und Funktionen bewußt ist. Und diese Sicherheit können sie in Spannung umsetzen.

Schorsch Kamerun, Ted Gaier, Hans Platzgumer, Thomas Wenzel und Enno Palluca musizieren seit dem 96er-Album Economy Class in dieser Besetzung. Blies dort noch der beißende Gegenwind von No Wave und Avantgardismen der späten 70er und frühen 80er, verortet sich Dead School Hamburg (Give me a Vollzeitarbeit) auf interessante Weise in der musikalischen Gegenwart. Synthetische Klänge, serielle Strukturen und eine gewisse atmosphärische Kühle lassen die Musik zunächst zeitgemäß erscheinen.

Vor dem Hintergrund des allseits bescheinigten paradigmatischen Wechsels (Rock sei tot, es lebe Elektro) erstaunt es beinahe, daß sich die Zitronen – Quertreiber und Überraschungskünstler, die sie sind – so nahe am gegenwärtigen Underground-Konsens situieren. Dafür gibt es auch biographische Gründe, schließlich schalten Platzgumer und Kamerun seit geraumer Zeit den Computer an, wenn sie unter eigenem Namen musizieren. „In Sequenzen denken“, beschreibt Kamerun die einschneidende Veränderung der Arbeitsweise, der sich die Goldies als Band nicht verschließen wollen, wenngleich die ganze Platte analog aufgenommen wurde, Cuts und Loops gar mit Tonband und Schere entstanden.

Daß die Platte so sehr im Jetzt zu stehen scheint, liegt jedoch vielmehr daran, daß die 80er schon wieder so nah vor der Tür stehen, daß der Verweis auf New Wave und die Kälte dieser Ästhetik beinahe nicht mehr als historischer Akt erscheint. Die Gegenwart besteht inzwischen aus so viel Vergangenheit, daß beide zusammenfallen. Dem begegnen die Zitronen, indem sie die historisch gewachsenen Techniken und Methoden umdrehen: Kälte wird analog aufgenommen, Maschinen-Musik wird von Menschen gespielt. Das musikalisch-historische Bewußtsein bewirkt so einen Anti-Retro-Effekt, der der Band denn auch sehr wichtig ist.

Das außermusikalische Konzept stützt sich auf drei Autoren, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Ted Gaier beschreibt bis ins Hysterische überzeichnete Alltagsszenen, die durch das Lupenhafte der Betrachtung an Eindringlichkeit gewinnen. Kamerun dagegen schreibt abstrahierender, hält so auch mehr Distanz. Platzgumers englische und französische Texte erschließen sich erst durch die Interpretation, die Einbindung in das Bandgefüge. Allen gemeinsam ist ein reportagehafter Ansatz und ein auffällig unpersönlicher Zugang zur jeweiligen Thematik. So sehr die Zitronen sich selbst auch als soziale Gruppe inszenieren, so wenig sprechen die Texte subjekthaft, zielen vielmehr auf das Andere, Verschiedene. Das macht die Beobachtungen mitunter sehr präzise, verortet die Band jedoch immer außerhalb des Beschriebenen.

Bis ins Beängstigende beeindruckend ist, wie konsequent die Arbeitsweise der Band durch das Material hindurchschimmert. Im Bewußtsein der äußeren und inneren Rollen und Funktionen rasen sie durch die Dead School. Wer soll diesen Zug noch aufhalten?