Seine Zeit ist gekommen

■ Das Philharmonische Staatsorchester Bremen hat Mahlers zweite Sinfonie in einer intensiven Interpretation auf CD verewigt

Schade, daß auf dieser CD eine der ungewöhnlichsten Anweisungen Gustav Mahlers nur dadurch realisiert werden kann, daß man schon nach 22 Minuten eine zweite CD auflegt: „Hier folgt eine Pause von mindestens fünf Minuten“, schreibt der Komponist nach dem wahrhaft katastrophischen Fortissimoabsturz unter den ersten Satz seiner zweiten Sinfonie, um die Diskrepanz zum wehmütigen Ländler des zweiten Satzes abfangen zu können. Schon bald nachdem Generalmusikdirektor Günter Neuhold im Sommer 1995 nach Bremen gekommen war, hat er eine systematische Mahlerpflege begonnen, die in der Aufführung der monumentalen zweiten Sinfonie zur Eröffnung der Glocke im Januar 1997 einen ersten Höhepunkt erreichte. Nun liegt der Mitschnitt dieses Konzerts auf einer Doppel-CD vor.

Gewiß kann man sich zunächst fragen, was es angesichts einer unzählbaren Menge von Spitzenaufnahmen dieses Werkes soll, eine weitere „lokale“ hinzuzufügen. Doch hat man die CD erst gehört, fragt man sich das nicht mehr.

Die Interpretation Neuholds ist ungemein intensiv und schlüssig, und sie präsentiert sich auf einem hohen technischen Spiel- und Aufnahmeniveau. Achtzig Minuten dauert dieses 1897 geschriebene sinfonische Monstrum, das noch mehr als andere Werke von Mahler seiner Auffassung Ausdruck verleiht, daß seine Musik seine Erfahrungen, seine Hoffnungen, gar sein Leben seien: „Nur wenn ich erlebe, tondichte ich – nur wenn ich tondichte, erlebe ich.“

Tödlicher Ernst, Katastrophisches, Ironisches und der leuchtende „Durchbruchsappell“ sind die tief empfundenen Stationen der zweiten Sinfonie – Stationen, die dem Hörer durch das Philharmonische Staatsorchester und auch den Chor beklemmend nahetreten. In einem wunderbar ausgewogenen Verhältnis von innerer und äußerer Gespanntheit, von Detailgenauigkeit und übergreifender Disposi-tion erreicht Neuhold mit dem gewaltigen Aufführungsapparat ein bemerkenswertes Maß an Unmittelbarkeit und Direkt-Emotion.

Der Totenfeier (der erste Satz) und der trügerisch-idyllischen Erinnerung (der zweite Satz) folgen der Aufschrei der Verzweiflung im Gewand der Ironie, ja des Zynismus in der Paraphrase des Fischerpredigtliedes aus der Wunderhornsammlung (der dritte Satz und die Erlösung mit dem vierten Satz und dem großen karthatischen Finale). Hier überzeugen vor allem auch die Fernwirkungen: „... vom Wind vereinzelt herübergetragene Klänge einer kaum mehr wahrnehmbaren Musik“, heißt es in der Partitur.

Als 1960 Mahlers 100ster Geburtstag gefeiert wurde, war der Komponist für die Musikwelt noch tot: Die „tausendjährige“ Kulturpolitik hatte ihre Wirkung gehabt. Nach seiner Entdeckung jedoch überschwemmen Mahlerwellen den Musikmarkt.

Keinem zweiten Musiker – nicht einmal Beethoven – ist in den letzten 30 Jahren die Ehre derart vieler Schallplatten- und CD-Aufnahmen zuteil geworden wie dem Wiener Musiker. Doch der fühlte sich zu Lebzeiten ebenso unverstanden wie er selbstsicher über seine zukünftige Wirkung sagte: „Meine Zeit wird kommen.“ Mahlers anhaltende Aktualität mag seine Darstellung der Zerrissenheit der Welt mit ihren uneinholbaren Erinnerungen und vielleicht nicht mehr erreichbaren Utopien sein: Daß dabei auch die zweite Sinfonie in der Bremer Aufnahme ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat, ist nicht wenig. Ute Schalz-Laurenze

Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 in c-moll, „Auferstehung“. Philharmonisches Staatsorchester, Chor des NDR und des Bremer Theaters, Dolores Ziegler (Alt), Günter Neuhold (Leitung). Antes-Edition BM-CD 14.9004, in Kooperation mit Radio Bremen. Preis: 59,95 Mark