Meine Straße, die dritte
: Brachiale Idyllen

■ Die Straßenseite wechseln? Besser nicht!

Meine Straße heißt Solmsstraße und liegt in Kreuzberg. Sie mündet am Südende in die Bergmannstraße, die auch den meisten Neuberlinern schnell ein Begriff ist. Gilt sie doch als Ku'damm des ehemaligen 61, des gemäßigten bzw. grünlich verspießerten Teils Kreuzbergs, auf den die Bewohner des ehemaligen SO36, des legendären echten Kreuzberg, früher distinktionslüstern herablächelten.

Die Bergmann ist eine reine Einkaufsstraße, hauptsächlich für Klamotten und Firlefanz aller Art. Nach jedem Geschäft kommt ein Imbiß oder ein Café und wartet darauf, Ihnen einen Wunsch erfüllen zu dürfen. Die Ödnis, die sich nach Ladenschluß über die Straße legt, kann es mit der jeder Provinzstadt aufnehmen. Das macht die Solmsstraße nicht mit. Kaum einer kennt sie. Konsumtechnisch ist sie deshalb noch weitgehend unerschlossen. Es gibt ein Anglerfachgeschäft, einen Friseur- und Tattoo-Salon, und das Handelszentrum bildet ein geradezu brachial idyllisch hergerichteter Hinterhof, in dem sich wundersame Nischenökonomien wie ein Hand- und Fußwebstudio angesiedelt haben. Ganz hinten in der Solms, in dem Zipfel zwischen Gneisenau und dem Friedhof an der AGB, kann man neuerdings Zeitungen und Kaltgetränke erwerben.

Die Solms wirkt, als habe sie nur wenige Berührungspunkte mit der Realität. Die Fußgängerzone, ein Kleinod an stadtplanerischem Schöpfungswillen, unterstreicht das bloß. Da hat jemand beschlossen, daß in einem Stückchen Riemannstraße, das an die Solms grenzt, kein Auto fahren darf. Der Boden ist fußgängerfreundlich gepflastert und gepollert, und ein paar Bänke und Mülleimer gruppieren sich um den unvermeidlichen Sandkasten. Glücklicherweise kann sich Kreuzberg keine dieser grauenerregenden Blumenkübel leisten, und ein Haufen Kinder darf ziemlich lange unten bleiben und hat bescheiden Platz zum Spielen. Manchmal bolzt auch ein deutsches Kind mit, und neulich schoß ein schwarzes Mädchen ein Tor, aber türkische Kinder sind in der Mehrheit. Vor einiger Zeit sagte an der Solms Ecke Riemann, gegenüber von der Fußgängerzone, ein zirka 16jähriger türkischer Junge zu einem etwa gleichaltrigen und sehr offenkundig von ihm begehrten Mädchen: „Du kannst mich hier immer finden. Ich bin jeden Tag in dieser Junkiestraße.“ Er sagte das mit einem selbstverächtlichen Unterton und meinte natürlich die Solms.

Aus Gründen, die dieser Junge so griffig zusammengefaßt hat, wurde auch angelegentlich des bemerkenswert kinderfeindlichen und seit Ewigkeiten vergitterten Spielplatzes eine Initiative gegründet. Der Spielplatz sah so aus: unten Sand und oben ein riesenhaftes an Gerüst- und Kletterstangen befestigtes Spinnennetz. Eingepfercht in eine für Berlin typische dunkle Schlucht aus Brandmauern. Jetzt sind die Wände im unteren Viertel bunt und süß bemalt, und zwei Unimog haben tagelang den Sand durchfurcht und große Haufen aufgeworfen. Das Gitter steht immer noch, und ein paar sich dem Gangster-Style hingebende junge Türken schlagen auf dieser Spielplatzhalde, ihrem angestammten Platz, nach wie vor die Zeit tot. Ihren niedlichen Hundchen bringen sie „Männchenmachen“ bei, und die Besserverdienenden unter ihnen pesen mit ihrem Gigolomobil auch gerne mal eben ums Karree. Man braucht ihretwegen aber nicht die Straßenseite zu wechseln. Wird oft getan, finde ich aber eher fatal. Katrin Schings