Aktien geht die Luft aus

Kursrutsch an der Wall Street läßt auch den Dax purzeln. Im Hintergrund steht die Sorge um die Asienkrise  ■ Von Nicola Liebert

Berlin (taz) – Der Bär streckt seine Tatze aus. Das Tier, das für sinkende Aktienkurse steht, hat den Bullen, der mit seinen Hörnern die Kurse nach oben schleudern soll, vertrieben. An der New Yorker Wall Street stürzte der Dow-Jones-Aktienindex am Dienstag um 3,3 Prozent auf 8.492 Punkte. Das sind bereits neun Prozent weniger als der Höchststand vor drei Wochen. Gestern schlossen sich die meisten anderen Börsen der Welt an – von Hongkong über London bis São Paulo. Der deutsche Dax fiel bis 14 Uhr um 2,89 Prozent auf 5.589,9 Punkte.

Panik brach aber nicht aus. „Bei uns stimmen die fundamentalen Daten nach wie vor“, so ein Frankfurter Börsenhändler zu den nervösen Journalisten. Die Gewinne deutscher Großunternehmen sprudelten, Inflation und Zinsen seien einmalig niedrig. Man könne sich von der Wall Street aber eben nicht abkoppeln. Und dort stimmen die Daten nicht mehr ganz.

Einen konkreten Auslöser für den New Yorker Kurssturz gab es dabei nicht – wohl aber eine ganze Reihe von Gründen. Insofern waren die Händler auch nicht ernsthaft überrascht vom Kurseinbruch. „Endlich, endlich beginnen die Investoren zu kapieren, daß sich das Wachstum der Unternehmensgewinne verlangsamt hat“, sagte beinahe mit Erleichterung eine Anlageberaterin an der Wall Street der New York Times. Die Financial Times zitiert einen Investmentbanker mit den Worten: „Die Leute haben geglaubt, Asien sei allenfalls ein Quartalsproblem. Jetzt setzt sich langsam die Erkenntnis durch, daß die Krise schwerer ist und länger dauernder als gedacht.“

Zahlreiche bekannte Konzerne wie Boeing und Procter & Gamble revidierten ihre Gewinnerwartung nach unten. Mit Verweis auf die Asienkrise kürzte der Computerhersteller Hewlett-Packard seinen Managern öffentlichkeitswirksam die Saläre. Die Gewinne der großen US-Unternehmen sind verschiedenen Schätzungen zufolge im zweiten Quartal dieses Jahres nur um drei bis vier Prozent gestiegen, das wäre der niedrigste Zuwachs seit 1991. Wenn die Unternehmenserträge aber nur um wenige Prozent steigen, gibt es mittelfristig keinen Grund, warum die Börsenhausse mit zweistelligen Zuwächsen anhalten sollte.

Am Freitag hatte die Regierung in Washington zudem das Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal auf nur mehr 1,4 Prozent (aufs Jahr umgerechnet) beziffert, nach 5,5 Prozent im ersten Quartal. Das ist der niedrigste Stand seit 1995. Das wachsende Handelsdefizit mit Asien hat zu einem Minus von 2,5 Prozentpunkten beim Wachstum geführt, und der inzwischen beendete Streik bei General Motors hat einen weiteren halben Prozentpunkt Wachstum gekostet.

Der Einbruch bei den Exporten wird zum Teil aufgefangen durch eine ungebrochen heftige Inlandsnachfrage. US-Amerikaner sparen weniger den je – durchschnittlich nur noch 0,6 Prozent ihres Einkommens – verdienen aber mehr. Daher haben sie allein im zweiten Quartal 1998 fast sechs Prozent mehr konsumiert als in den ersten drei Monaten.

Jedoch ist zu vermuten, daß die US-Bürger nur deshalb so konsumfreudig sind, weil sich ihr bereits Erspartes dank der bisherigen Börsenhausse von selbst kräftig vermehrt. Sollte sich der Kursverfall jetzt fortsetzen, könnte die Inlandsnachfrage schnell abhanden kommen, und schon wäre die Rezession da. „Die Wirtschaft ist stark, aber zerbrechlich“, so umschreibt das kunstvoll ein Investmentbanker von Goldman Sachs in New York.

Zu Panik sehen die Analysten weder in den USA noch in Deutschland einen Grund. Einige Beobachter, so zum Beispiel Pierre Drach von Independent Research in Frankfurt, betonen zwar, daß auch die Gewinnerwartungen vieler deutscher Firmen für das zweite Halbjahr unter Druck stünden. Doch weil die Zinsen auf absehbare Zeit hier wie auch jenseits des Atlantiks extrem niedrig sind, hätten die Anleger kaum eine sinnvolle Alternative zu Aktien.