Namenlos verscharrt

■ Veröffentlichungen in „Washington Post“ und taz über Massengräber im Kosovo haben eine heftige Kontroverse ausgelöst. Sind in der von den Serben eingenommenen Stadt Orahovac die Opfer der Kämpfe beerdigt worden? Oder hat es vor gut zwei Wochen ein Massaker an Hunderten von Kindern, Frauen und unbewaffneten Männern gegeben? Nur eine internationale Untersuchungskommission kann hier die Wahrheit ans Licht bringen.

Orahovac liegt inmitten von Weinbergen in einer grünen Landschaft, nahe der Grenze zu Albanien. Bis zum 17. Juli gehörte die Stadt zu den multikulturellen Zentren des Kosovo. Hier lebten Albaner, Serben und Roma friedlich zusammen. Dann begannen die Kämpfe.

Die Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) griff die Polizeistation an und brachte Teile der Stadt unter ihre Kontrolle. Albanische Quellen bestätigen das, sprechen aber von vorausgehenden Provokationen der serbischen Polizei.

Am nächsten Tag wurden Sondertruppen des Innenministeriums aus Belgrad mobilisiert. Die 700 Mann dieser Elitetruppe wendeten das Blatt: Die UCK wurde aus der Stadt vertrieben, 20- bis 25.000 kosovo-albanische Zivilisten flüchteten in Richtung Osten, in die damals noch von der UCK kontrollierten Gebiete um Malishevo. Die serbische und die Roma-Bevölkerung blieben.

Gerüchte über Massengräber in Orahovac waren seit mehreren Tagen in der Provinzhauptstadt Pristina zu hören. Die serbische Seite hatte eine Erklärung dafür: Bei den Kämpfen habe es 60 Tote gegeben. Internationale Beobachter gingen anfänglich in ihren Schätzungen von 200 Toten aus. Dann berichtete R.Jeffrey Smith, Korrespondent der Washington Post am Dienstag, er habe frisch zugeschüttete Massengräber gesehen. Deshalb versuchen an diesem Tag der US- amerikanische Journalist Phil Smucker und ich, diese Stellen ausfindig zu machen. Sie sollen sich, so die Washington Post, am Rande der lokalen Mülldeponie östlich der Stadt befinden.

Die Straße führt vorbei am Polizeihauptquartier und windet sich hinauf zu einem Plateau, auf dem sich ein weitläufiger Friedhof befindet. Die Grabsteine zeigen an, daß hier Muslime wie Orthodoxe ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Etwas weiter kommt uns ein Bulldozer entgegen. Plötzlich liegt ein süßlicher Geruch in der Luft. Wir haben den Ort gefunden.

Rechts der Straße ist Erdreich über Teile einer Mülldeponie gekippt und von Bulldozern befestigt worden. Auf einem Terrain von etwa 10 mal 10 Metern sind 33 Holzpfosten mit mehrstelligen Nummern in den Boden gerammt. Offenbar handelt es sich um Markierungen.

Kaum dreißig Meter entfernt ist eine zweite, etwa gleich große Stelle zu sehen, die ebenfalls von Bulldozern mit Erdreich überdeckt worden ist. Auch hier empfängt uns derselbe unerträgliche Geruch. Diesmal sind keine Markierungen angebracht. Einige hundert Meter weiter befindet sich eine dritte Stelle. Ein Kadaver ist in einem Plastiksack zu erkennen. Ob es sich um einen Menschen handelt, ist angesichts der Verwesung nicht mit Sicherheit zu erkennen. Deutlich sichtbar ist an anderer Stelle der Kopf einer Kuh. Am Mittwoch berichtet die kosovo-albanische Zeitung Koha Ditore, auf menschliche Leichen seien an dieser Stelle Tierkadaver und Müll geschüttet worden. Aber mehr ist vor Ort nicht zu erfahren, nur Ausgrabungen werden die Wahrheit ans Licht bringen.

Wir kehren zur Stadt zurück. Einige Häuser sind ausgebrannt, viele der Schaufensterscheiben zerborsten. Nur wenige Menschen gehen durch die Straßen, viel Polizei ist zu sehen. Einige Geschäfte haben inzwischen wieder geöffnet. Die Verkäufer und die Kunden gehören zur serbischen Minderheit der Stadt.

Wir treffen eine kosovo-albanische Familie, die während der Kämpfe nicht geflohen war. Doch über Massengräber wissen sie nichts, weil sie sich eine Woche lang in ihrem Keller versteckt hielten. Schließlich meldet sich doch noch ein Zeuge, Mitte dreißig dürfte er sein. Er führt uns in das Haus einer serbischen Familie und erzählt, was er gesehen hat – nur dürfe man um Gottes willen seine Identität nicht preisgeben.

Antiterrortruppen des Innenministeriums seien am zweiten Tag der Kämpfe gekommen und hätten die UCK vertrieben, aber auch auf die Zivilbevölkerung geschossen. Die gesamte Stadt hätten sie durchkämmt und viele Menschen ermordet. Er bringt uns zu einem Platz, wo drei Frauen und zehn Kinder ermordet worden seien. Ein großer Blutfleck ist auf dem Boden zu sehen. „Und was passierte mit den Leichen?“, wollen wir wissen. „Zigeuner“, wie er sich ausdrückt, hätten „viele Leichen“ auf sieben Pferdekarren abtransportiert.

Einige der Leichen seien damals übersehen worden. Das bestätigt übrigens auch der holländische Journalist Harald Doornbos, der bei der ersten Journalistengruppe in Orahovac war. Er habe einige der Leichen selbst gesehen, darunter eine etwa 19jährige Frau, ältere Leute und einen Mann Mitte vierzig.

Insgesamt, so erzählt unser Informant in Orahovac weiter, seien bis zum Montag dieser Woche 567 Leichen abtransportiert worden. Er wisse das so genau, weil er nicht nur über gute Kontakte zu den Totengräbern verfüge, sondern auch mit Hand habe anlegen müssen: „Ich habe die Leichen selbst gezählt.“ Die Mehrzahl seien Kinder gewesen, „430, um genau zu sein“. Außerdem habe man Leichen in zwei Lastwagen in die Nachbarstadt Przren transportiert. Ob die Massengräber oberhalb der Stadt die einzigen seien, wisse er nicht. „Aber wahrscheinlich gibt es noch andere Orte.“ Nachbarn berichten, in den Wäldern oberhalb der Stadt gebe es noch mehr Gräber.

Ein Stadtrundgang macht deutlich, daß noch immer nicht alle Leichen von Menschen und Tieren abtransportiert sind. Der Gestank, der aus manchen Häusern dringt, ist unerträglich. Hineinzugehen wagen wir allerdings nicht – zu viele Polizisten patrouillieren auf der Straße.

Ein Konvoi kommt uns entgegen. Es ist die US-amerikanische Delegation. Am Abend wird Christopher Hill in einer Pressekonferenz die Existenz der Massengräber leugnen. Die serbische Seite tut dies nicht. Sie bestreitet aber die Zahl der Toten vehement. Nach ihren neuesten Angaben soll es sich lediglich um 37 Tote handeln. Erich Rathfelder, Orahovac