Null Beschäftigungseffekt

■ Der wirtschaftliche Aufschwung ist da. Und vom Aufschwung werden, da ist sich die Bonner Regierung ganz sicher, viele Arbeitslose profitieren. Wenn auch mit einer leichten Verzögerung. Die Zahlen jedoch, die die Bundesanstalt für Arbeit gestern für den Monat Juli veröffentlichte, sprechen eine andere Sprache. Aufschwung ist eben nicht gleich Aufschwung. Weil, so die Wirtschaftsforscher, für neugeschaffene Stellen anderswo Arbeitsplätze vernichtet werden.

Uns geht's gut! So viel Positivmeldungen konnten deutsche Industrie- und Branchenverbände seit Jahren nicht in den Medien plazieren. Der Exportboom ist auf den Binnenmarkt übergesprungen, der Absatz steigt nicht nur im Aus-, sondern auch im Inland. Zwischen 2,5 und 3 Prozent soll das Wirtschaftswachstum betragen, also das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1998 zulegen. Und zu gerne wollen alle, vom Bundeskanzler über den SPD-Kanzlerkandidaten bis zu den Gewerkschaften, den Erfolg für sich verbuchen.

Hinter der Freude über die brummende Wirtschaft steht der nicht auszutreibende Glaube, daß auf einen Wirtschaftsaufschwung stehenden Fußes die Wende auf dem Arbeitsmarkt folgen muß. Die Realität, die die Bundesanstalt für Arbeit jeden Monat verkündet, ist eine andere, wie die gestern vorgestellten Zahlen für Juli wieder bestätigen: 4,13 Millionen Frauen und Männer sind offiziell erwerbslos, 59.400 mehr als im Vormonat.

Dabei zeigt schon der Blick auf die einzelnen Branchen, daß Aufschwung nicht gleich Aufschwung ist. Am meisten zugelegt hat die Industrie, die mit 24,4 Prozent aller Beschäftigten und einem Anteil von einem Drittel am BIP den bedeutendsten Wirtschaftsbereich ausmacht. Laut ifo-Institut wird sie im laufenden Jahr ingesamt um fünf Prozent zulegen. Nur: Der Beschäftigungseffekt ist gleich Null.

Zwar werden Schlüsselbereiche wie die Automobilindustrie ihre Versprechen aller Voraussicht nach einhalten können und bis zu 20.000 Stellen neu schaffen. Aber in anderen Traditionsbereichen wie Rüstungs-, Luft- und Raumfahrtindustrie stehen umgekehrte Effekte an: Nach Schätzungen der IG Metall gefährdet die Konzentration auf dem europäischen Markt bis zu 27.000 der 81.000 derzeitigen Stellen.

Besonders deutlich werden die gegenläufigen Tendenzen bei großen Konzernen wie der Siemens AG, wo sich Auf- und Abbau von Stellen intern neutralisieren. 10.000 geplanten neuen Stellen in der Halbleiter- und Chipproduktion stehen ebenso viele Entlassungen in der Verkehrstechnik und bei den privaten Kommunikationssystemen entgegen.

Ebenso gespalten stellt sich die Situation im Dienstleistungsbereich dar. Im Osten hat er das verarbeitende Gewerbe bereits als beschäftigungsstärkste Branche abgelöst und bundesweit mit einem Anteil von 24 Prozent an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen beinahe eingeholt. Hier rechnen die ifo-Forscher bei einem überdurchschnittlichen, aber im Vergleich zum Vorjahr niedrigeren Wachstum von drei Prozent mit insgesamt 160.000 neuen Arbeitsplätzen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) verortet den Zuwachs vor allem in der Gebäude- und Straßenreinigung, der Gastronomie und im Wachdienst, aber auch im Werbefach und bei den Wirtschaftsdienstleistungen.

Teilweise erklärt sich die hohe Zahl durch einen statistischen Effekt: Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes und die öffentliche Verwaltung lagern diese Beschäftigungsbereiche zunehmend an Fremdfirmen aus. Dazu paßt auch die Feststellung des IAB, daß bei den Dienstleistern vor allem die kleineren Unternehmen neue Stellen schaffen. Sogenannte Global Players hingegen rationalisieren auch hier. So will die Deutsche Bank bis zum Jahresende 9.000 Beschäftigte in den Filialen entlassen.

Einen Sonderstatus haben die neuen Technologien, die sich erst seit wenigen Jahren entwickeln und deswegen exorbitante Wachstumsraten von teilweise 20 Prozent und mehr vorweisen können. Hier erwartet die Bundesregierung einen ungeheuren Beschäftigungseffekt. Von 200.000 bis 1,5 Millionen Arbeitsplätzen bis zum Jahr 2010 ist die Rede. Eine reale Grundlage für diese Schätzungen gibt es nicht. Ulrich Dolata, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Bremen, spricht auch hier von einer bloßen Verlagerung von Stellen. Die neue Biotechnologie etwa ersetze lediglich alte Medikamente durch neue und herkömmliches Saatgut durch genmanipuliertes. Gleichzeitig biete sie Rationalisierungsmöglichkeiten. „Unterm Strich dürfte dies zu einer Entkopplung der Umsatzdynamik von der Beschäftigungsentwicklung führen.“ Auch in der Kommunikationstechnologie löse ein Großteil der Stellen bei den neuen Mobil- und Festnetzbetreibern nur die bei der Telekom bereits eingesparten oder künftig noch wegzufallenden Stellen ab.

Die Bundesregierung erklärt den mangelnden Übersprung von der Konjunkturbelebung auf die Beschäftigung komplett mit dem Verzögerungsfaktor. Weil Unternehmen ihre Mitarbeiter bei schlechter Konjunktur nicht gleich entlassen könnten, seien sie in besseren Zeiten auch vorsichtig bei Neueinstellungen. Patentrezept von FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms: Heuern und Feuern leichter machen, indem der Kündigungsschutz verringert wird.

„Das bringt gar nichts“, erklärt Arne Heise, Konjunkturexperte beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI). Die Möglichkeiten, Beschäftigte an die Luft zu setzen, hätten die meisten Unternehmen bereits ausgeschöpft. Jetzt würden sie lieber auf eingearbeitete Leute zurückgreifen, die sie auch in Schwächephasen weiter beschäftigen, um nicht hinterher mit Neueingestellten von vorn anfangen zu müssen.

Und selbst wenn dem Wirtschaftsaufschwung zeitlich versetzt Einstellungen folgen, führt das nicht notwendigerweise zu einem Abbau der bestehenden Arbeitslosigkeit im gleichen Umfang. Denn rund 40 Prozent dieser Neueinstellungen entfallen laut ifo-Institut auf junge, qualifizierte Arbeitssuchende, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Konsequenz: Nur 60 Prozent der so geschaffenen Arbeitsplätze tragen zum Abbau der offiziellen Erwerbslosigkeit bei.

Ohnehin sind sich die Wirtschaftsforscher darin einig, daß überhaupt erst dann mit zusätzlichen Stellen zu rechnen ist, wenn die Wirtschaft schneller wächst als die Produktivität. Durch technischen Fortschritt und Rationalisierung nimmt nämlich das Bruttoinlandsprodukt zu, ohne daß dafür auch nur ein Arbeitnehmer mehr benötigt wird. Wo die sogenannte Beschäftigungsschwelle – also die Wachstumsrate, ab der neue Stellen geschaffen werden – liegt, ist umstritten. Denn strittig ist, wie sich die Produktivität in den letzten Jahren entwickelt hat.

So sieht ifo-Wachstumsexperte Hans Joachim Schalk neue Jobs ab einem Wachstum von 2,3 Prozent, so daß bei der von seinem Institut prognostizierten Zunahme des BIP um 2,7 Prozent tatsächlich Mehreinstellungen zu erwarten wären. Heise vom WSI dagegen geht davon aus, daß sich die Produktivität um mehr als drei Prozent erhöht hat, so daß es zu keinerlei zusätzlichen Arbeitsplätzen kommen würde, wenn das Wirtschaftswachstum nicht noch erheblich gesteigert werden kann. Da die erforderliche Dynamik aber in nächster Zeit kaum zu erreichen sei, müsse man vielleicht den anderen Weg wählen: Mehr Beschäftigung, so der gewerkschaftsnahe Wirtschaftsforscher, lasse sich schließlich auch über Arbeitszeitverkürzung erreichen. Beate Willms