Betrachtungen zum zweiten Berliner Mauerbau

Vor 37 Jahren mauerte der real existierende Sozialismus sich ein. 916 Menschen, die sich in den Westen „rübermachen“ wollten, verloren an der deutsch-deutschen Grenze ihr Leben. Hingen erschossen im Stacheldraht, lagen auf dem minenbewehrten Todesstreifen. Dort, wo die meisten Opfer zu beklagen waren, an der Bernauer Straße in Berlin, wird am Tag des Mauerbaus, dem 13.August, wieder eine Mauer eröffnet. Diesmal als ästhetisierte Gedenkstätte. Frisch gesandstrahlt und mit glänzendem Aluminium eingefat, soll nun der Opfer der deutschen Teilung gedacht werden. Über die Geschichte des zweiten Berliner Mauerbaus berichten  ■ Uwe Rada (Text) und Christian
Jungeblodt (Fotos)

Wo ist hier die Mauer? Nicht nur Touristen erkennt der Berliner an dieser Frage. Denn nicht jeder Berliner kann diese Frage beantworten. Viele sind weggezogen, andere sind gekommen, jüngere, auch aus dem Ausland. Mit den täglichen Absurditäten einer zusammengezimmerten Stadt gehen sie so souverän um wie die Mauerberliner mit dem Eisernen Vorhang, der die Stadt 28 Jahre teilte. In Mitte lebt nun die Generation der 89er. Wo war die Mauer? Und wer denkt noch an sie, vor und nach den jährlichen Gedenkfeiern am 13. August?

Die Mauer ist weg. Die Mauerspechte, auch die regierungsamtlichen, haben ganze Arbeit geleistet. Das haben, als die Arbeit geleistet war, auch die Regierungsamtlichen entdeckt und einen Wettbewerb ausgelobt. Dort, wo die meisten der 916 Toten zu beklagen waren, wo die Mauer die Bernauer Straße durchtrennte, an jener Stelle, an der noch 212 Meter Originalmauer standen, sollte künftig der Opfer der Teilung gedacht werden. Nur, wie? Waren die noch vorhandenen Grenzanlagen nicht Denkort genug? Sollte die Mauer tatsächlich gereinigt, restauriert und damit runderneuert werden? Und was war mit der Spontanvegetation? Sollte sie weg, weil über einen Todesstreifen kein Gras wachsen darf? Oder sollte sie bleiben, weil eine herausgeputzte Grenzanlage etwas künstlich Künstlerisches hat?

Die Mauer ist in den Köpfen. Das ist in Berlin zu einem geflügelten Wort geworden. Johannes Hildebrandt hat keine Mauer im Kopf. Und doch geht ohne ihn nichts an der Bernauer Straße. Den Wettbewerb „Gedenkstätte Berliner Mauer“ hat er im Prinzip allein entschieden. Drei zweite Plätze hatte es nach dem Votum der Jury im August 1995 gegeben. Markus- Antonius Bühren und Markus Maria Schulz wollten unter dem Motto „Kein Denkmal“ alles so lassen, wie es war. Der Entwurf des Büros Winkler & Thiel sah einen etwa fünfzehn Meter hohen begehbaren Zaun vor, der das Niemandsland auf einer Länge von 130 Metern umrundete. Weil sich die Dritten im Bunde, die Stuttgarter Architekten Sven und Claudia Kohlhoff, mit ihrem Entwurf eines Kabinetts auf nur sechzig Meter Mauer beschränkten, gab Hildebrandt sein Plazet.

Der Pfarrer der Sophiengemeinde hatte schließlich früh genug deutlich gemacht, daß ihm die Gräber seines Friedhofs wichtiger sind als eine Mauergedenkstätte. Immerhin waren die Gräber älter als die Mauer. Sie wurden vor Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 von den Grenztruppen eingeebnet. Und weil sich zwischen den Gräbern auch Kriegsgräber aus den letzten Kriegstagen befanden, sprach Hildebrandt auch ein Wörtchen mit bei der Frage, wessen nun zu gedenken sei. Auf dem zentralen Gedenkstein ist jetzt nachzulesen, wogegen Opferverbände und Bündnisgrüne Sturm gelaufen sind: „Gedenkstätte für die Opfer des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung“. Zumindest das Gedenken ist in Deutschland, so scheint es, nicht mehr teilbar.

Die Mauer muß also wieder her. Im April 1997 hatte der Mauerpfarrer den Bogen freilich überspannt. Noch bevor mit den Arbeiten für den Bau der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße begonnen wurde, ließ Johannes Hildebrandt mit Genehmigung des Bezirks Mitte 32 Mauersegmente außerhalb des Gedenkstättenbereichs abreißen. Das waren immerhin 40 der insgesamt 212 laufenden Meter. Der Grund: Laut Hildebrandt befanden sich genau hier bislang unentdeckte Massenkriegsgräber. (Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte.) Entsprechend groß war der Aufschrei in der Berliner Öffentlichkeit.

Plötzlich wollten alle die Mauer wieder. Der Kohlhoff-Entwurf erschien aus dieser Perspektive viel zu klein. Warum sich auf 60 Meter beschränken, wenn man 212 Meter zur Verfügung hat(te)? Pfarrer Hildebrandt, der doch keine Mauer auf seinem Friedhof wollte, mußte einem Kompromiß zustimmen. „Kohlhoff plus“ hieß der und sah vor, neben dem Bau der Gedenkstätte sämtliche vorhandenen Mauerteile zu erhalten. Was mit den abgerissenen Segmenten geschehen sollte, war nicht festgelegt. Nun stehen sie fein ordentlich nebeneinander, neben der 2,2 Millionen Mark teuren Gedenkstätte, als Mahnmal eines Mahnmals.

Die Mauer glänzt. Verglichen mit der Zeit zwischen der Auslobung der Gedenkstätte 1994 und dem Abriß der Mauersegmente im April 1997 verliefen die Monate seit Beginn der Bauarbeiten am 9. November 1997 friedlich. Nun war alles so, wie es sein sollte. Der Todesstreifen wurde chemisch von jedem Unkraut gereinigt, die Vorderlandmauer mit ihrer fast sanften Mauerkrone runderneuert, die Bogenlampen wurden restauriert und die Stahlplatten mit einer Anti-Graffiti-Schicht überzogen. Über zweite Preise, die auf Pfarrers Wunsch zu ersten wurden, diskutiert sich eben schlecht.

Um so mehr werden die Besucher der Gedenkstätte diskutieren. Darüber, ob es reicht, den Todesstreifen samt Postenweg und Bogenlampen allein durch ein paar Sehschlitze durch die Hinterlandmauer betrachten zu dürfen. Ob der Spiegeleffekt der Edelstahlplatten, die die Mauern fassen wie die vertikalen Schenkel eines riesigen H, die Authentizität des Ortes nicht über Gebühr ins künstliche Spiel mit dem Schrecken setzt. Ob der Rest der Mauer bis zur Bergstraße nicht der bessere Denkort gewesen wäre.

Um nicht alle Fragen offenzulassen, soll in der Bernauer Straße ein Dokumentationszentrum errichtet werden. Ob dort nicht nur die Topographie der deutschen Teilung, sondern auch die Schwierigkeit, ihrer zu gedenken, gewürdigt wird?

Christian Jungeblodt, 35 Jahre, ist Fotograf der Gruppe Signum. Er lebt in Berlin. Die gezeigten Fotos sind Teil des Projekts „Berliner Tagebuch“ und zu sehen vom 13. August bis 1. Dezember in der Ausstellung „Mauerbau“ im Berlin Pavillon, Straße des 17. Juni 100.

Uwe Rada, 34 Jahre, Autor des Buches „Hauptstadt der Verdrängung“, arbeitet seit 1992 in der Berlinredaktion der taz. Er beschäftigt sich mit Stadtentwicklung.