Hauptgewinne aus der Abfalltonne

Gottfried Müller durchstöbert die Mülleimer in den Einkaufsstraßen Charlottenburgs nach gestohlenen Portemonnaies. Mit dem Finderlohn bessert er seine schmale Rente auf  ■ Von Susanne Sitzler

Freitagnachmittag auf der Wilmersdorfer Straße. Menschen drängen sich an den Geschäften. In der Mitte der Einkaufsstraße steht eine Losbude. Laut wirbt ein Verkäufer um Kunden: „Ran geht's hier vorne! Holt sie raus, die Hauptgewinne!“

Gottfried Müller versucht sein Glück drei Meter weiter. Immer tiefer versinkt sein Arm in der orangenen Mülltonne. Mit suchendem Blick lugt er in die kleine Öffnung des Abfalleimers. Heraus zieht er eine alte Plastiktüte mit schwarzen Lederschuhen. Er mustert die Schuhe mit kritischem Blick und wirft sie nach einer kurzen Bedenkzeit zurück in die Tonne. Leider kein Hauptgewinn.

Müller ist auf dem Weg zum Bahnhof Zoo. Jeden Tag durchsucht er die Mülltonnen der Einkaufsstraßen von Charlottenburg in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden. Sein Hauptgewinn sind gestohlene Geldbeutel. Vor einem Jahr fand Müller den ersten. Inzwischen sind es 156. Wenn Müller das gestrandete Diebesgut aus den Abfalltonnen mitnimmt und den glücklichen Besitzern zurückgibt, springt für ihn meistens ein guter Finderlohn heraus. In seinem blauen Ringbuch hat er ganz genau notiert, in welcher Tonne er welches Portemonnaie gefunden hat, wem es gehört und wer es bei ihm zu Hause abholen kommt.

Der junge Mann, der das gestohlene Portemonnaie Nummer 155 abholt, wirkt etwas verstört, als er die kleine Wohnung von Müller betritt. „Ich weiß gar nicht so richtig, was hier eigentlich los ist. Sie haben also das Portemonnaie gefunden?“ fragt er Müller, der auf seinem braunen Sofa sitzt. „Ja“, sagt Müller und überreicht ihm das große, dunkelviolette Geschäftsportemonnaie. Es gehört dem Vater des jungen Mannes, einem Taxifahrer. Müllers Besucher staunt nicht schlecht. Er öffnet das Portemonnaie, bis auf das Geld ist offenbar noch alles drin.

„Und wer hat das geklaut?“, fragt er mit unsicherem Blick. Müller zuckt mit den Schultern. Er hat den Geldbeutel nur gefunden. „Die Telefonnummer, die ihr Vater da aufgeschrieben hat, stimmt übrigens nicht“, stellt Müller mit einem Blick in sein blaues Ringbuch fest. „Ihre richtige Nummer habe ich von der Auskunft.“ Der junge Mann nickt. „Aha“, sagt er etwas verwirrt. Er drückt dem Finder fünf Mark in die Hand und geht wieder.

Nur zum Spaß bietet Müller diesen Service natürlich nicht. 485 Mark Rente im Monat sind wenig, auch wenn das Sozialamt die kleine Wohnung des 55jährigen in Charlottenburg bezahlt, die er seit Jahren alleine bewohnt. Mit dem Finderlohn für die Geldbeutel verdient er sich etwas dazu. Ihm gefällt die „kriminalistische Kleinstarbeit“, die es erfordert, den Besitzer herauszufinden. Weil die Diebe nur das Bargeld interessiert, findet Müller meistens irgendwelche Papiere oder Notizzettel, die ihn auf die richtige Fährte bringen. In einer großen Pappkiste im Schrank liegen mindestens 20 „herrenlose“ Geldbeutel, bei denen das nicht geklappt hat.

Fünf Mark Finderlohn sind eigentlich zu wenig: „Das war gerade mal für die Unkosten“, sagt Müller ein wenig zerknirscht, als er sich das Geld in die blaue Hemdtasche steckt. Trotzdem ist das noch besser als die Reaktion der Frau aus Bautzen, über die er sich immer noch ärgert: „Die ist hier großspurig mit der Taxe vorgefahren und wollte ihre 120 Mark wieder.“ Weil sie Müller nicht glaubte, erstattete sie gegen ihn Anzeige wegen Diebstahls. „Dabei wäre ich doch gar nicht in der Lage, jemanden zu beklauen“, sagt Müller mit gesenktem Blick. Seit sechs Jahren ist er an Parkinson erkrankt. Mit den Tabletten, die immer in seiner rechten Hosentasche stecken, hat er die Nervenkrankheit aber „gut im Griff“, wie er sagt.

Im Sommer gefällt es Müller besonders gut, seine vierstündige Runde zu machen. Nur die Wespen, die jetzt in den Mülltonnen sitzen, stören seine gute Laune. In einer Telefonzelle am Adenauerplatz findet Müller zwei leere Telefonkarten. „Das klappt ja vorzüglich“, freut er sich. Telefonkarten sind neben den Geldbeuteln seine beste Einnahmequelle. Am Bahnhof Zoo verkauft er sie an Sammler. „Das ist verrückt, man glaubt gar nicht, wer alles sammelt“, sagt Müller und setzt sich seine große Lesebrille auf die Nase. „Das ist eine gute Karte, für die bekomme ich eine Mark.“ Für die üblichen Serienkarten der Telekom gibt es lediglich „einen Sechser“, fünf Pfennig. Daß die Karten eigentlich weit mehr wert sind, weiß Müller auch. „Ehrensache. Die Sammler verkaufen die nicht unter zehn Mark.“ Selbst auf den Märkten mitzumischen, wäre ihm aber zu anstrengend.

In den Mülltonnen am Platz hat er weniger Glück. Totale Ebbe im Abfalleimer. „Die werden mindestens zweimal am Tag geleert“, grummelt Müller. Er überlegt eine Weile und beschließt, erst mal zum Zoo zu gehen. Mit den beiden Telefonkarten ist er fürs erste zufrieden. Später, nach Ladenschluß, wird er auf dem Rückweg noch einmal in die Tonnen schauen. „Irgendwas werde ich schon finden. Meinen Zehner nebenbei habe ich immer“, grinst er und zündet sich eine Zigarette an. Den goldenen Vibrator von Beate Uhse, den er vorige Woche fand, ist er auch für zehn Mark losgeworden. „Der war ja noch ungebraucht“, sagt Müller. An das Preisetikett kann er sich gut erinnern: 69,90 Mark.