Gute Bücher, schlechte Bücher etc.
: Von Größe und Verständnis

■ Zum Jahrhundertende wird an allen Fronten Inventur gemacht. Jetzt herrscht auch Klarheit über die hundert schlechtesten Romane

Mit den Festvorbereitungen zum bevorstehenden Jahrhundertende wird es nun langsam ernst. Erst kürzlich hat ein Team von würdigen Damen und Herren zwischen A.S. Byatt und Gore Vidal für das würdige Verlagshaus Random House eine Liste der hundert besten Bücher des Jahrhunderts zusammengestellt. Ohne Zweifel ist eine sehr würdige Liste dabei herausgekommen, geradezu darauf angelegt, etwas Spott auf sich zu ziehen.

So erschien in der derzeit besten englischen Tageszeitung, dem Independent (24. 7. 1998), eine Liste der 100 schlechtesten Bücher des Jahrhunderts. Woran denkt man dabei zuerst? Den Autoren dieser Liste, David Thomas und Mitchell Symons, zufolge denkt man zuerst an „Mein Kampf“ und die „Gedanken des großen Vorsitzenden Mao“ – doch würden die ersten 100 Plätze rasch besetzt sein, wollte man jede Hetzschrift inkludieren, die mitgeholfen hat, das Jahrhundert zu vergiften. So beschränkten sie sich weise auf die Literatur im engeren Sinn und dabei im wesentlichen auf englischsprachige Werke.

Abgesehen von den „wirklich“ schlechten Autoren wie Isabel Allende („Als Autorin so überschätzt, wie ihr Dad es als Politiker war“) oder Mario Puzo („Irgendwer hätte ihm ein Angebot machen sollen, das er ablehnen konnte“), finden wir in dieser höchst verdienstvollen Liste die sogenannten Klassiker der Moderne. Das sind jene vielgerühmten Bücher, die für den gewöhnlichen Leser eigentlich völlig ungenießbar sind, allerdings von der amtierenden akademisch-kritischen Priesterschaft gerade deswegen zu den Meisterwerken des Jahrhunderts gezählt werden. „Kein Kunstwerk kann groß genannt werden, wenn es einem gewöhnlichen menschlichen Wesen unmöglich ist, es auf irgendeine Weise zu verstehen und zu genießen. Shakespeare, Rembrandt oder Mozart erfüllen dieses Kriterium, Joyce und Proust nicht.“

Und so führen die zwei joyceschen Meisterwerke (die bekanntlich so gut wie niemand je zu Ende gelesen hat) die Liste an. Voran der „Ulysses“ („,Nie zuvor habe ich solchen Quatsch gelesen‘, sagte Virginia Woolf, und sie mußte es wissen“), auf Platz zwei „Finnegans Wake“ („,Warum schreibst du keine Bücher, die die Leute lesen können‘, fragte Nora Joyce“).

Platz drei belegt D.H.Lawrences „Lady Chatterley's Lover“, dann folgen Prousts „Verlorene Zeit“, Solschenizyns „Archipel Gulag („Keine Lacher, kein Sex, und zu kaufen gibt es dort auch nichts“) und Salman Rushdies „Satanische Verse“ („Supergescheiter kleiner Public-School-Boy wischt einer der großen Weltreligionen eins aus. Er möchte, daß man sein Werk ernst nimmt, und ist schockiert, als dies eintritt“).

Neben den unumstößlichen Klassikern geht es bei dieser Liste schließlich um die aufgeblasenen Reputationen. So haben wir etwa auf Platz 18 Jack Kerouacs „On the Road“ („,Das ist nicht Schreiben, das ist Tippen‘ – Truman Capote“), auf Platz 19 Truman Capotes „In Cold Blood“ („,Das ist nicht Schreiben, das ist Recherche‘ – The New Republic“).

Mit einem Wort, diese Hunderter-Liste aus dem Independent vom 24. 7. 1998 bietet eins der vergnüglichsten Feuilleton- Erlebnisse dieses Sommers, das man sich nach Möglichkeit beschaffen sollte, um so mehr, als die ernsten Herren, die den diesbezüglichen Kanon verwalten, sich ungemein darüber geärgert haben.

Zuerst ärgerte sich das Times Literary Supplement, und dann auch noch, mit entsprechender Verspätung, da nicht das Original, sondern erst die TLS-Reaktion aufgefallen war, „flo“ von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3. 8. 1998). Und wie immer, dann, wenn die Feuilleton- FAZ sich richtig ärgert, kommt sie ihrer Informationspflicht auf Umwegen nach. „flo“ plaudert zunächst geistvoll fast über Glossenlänge von etwas ganz anderem, dann informiert er eher eklektisch (nur von „Mein Kampf“ ist die Rede, nicht von Joyce oder Proust, den eigentlichen Steinen des Anstoßes), und dann rät er uns allen, das schnell zu vergessen, wovon er uns noch gar nichts erzählt hat. Walter Klier