„Das Hochwasser ist Ergebnis des Landhungers“

■ Dirk Wollesen, Geograph an der Universität Gießen, über die Ursachen des Jangtse-Hochwassers: „Das größte Problem sind die Eindeichungen und die fehlenden Wasserrückhaltegebiete“

Das Geographische Institut der Uni Gießen forscht seit 1987 gemeinsam mit der Universität Nanjing zu Klimaveränderungen, Hochwasserschutz und Landnutzung im Jangtse-Becken.

taz: Tragen Klimaveränderungen zum Hochwasser am Jangtse bei?

Dirk Wollesen: Das diesjährige Hochwasser ist sehr ausgeprägten Niederschlägen zuzuschreiben. Beim Blick auf die Hochwasserkatastrophen dieses Jahrhunderts sehen wir eine gewisse Häufung in den letzten 20 Jahren. Wir hatten 14 große Überschwemmungen in diesem Jahrhundert, davon allein zehn seit Beginn der 80er Jahre. Chinas Klima hängt mit dem pazifischen Klima zusammen und ist damit auch mit dem Wetterphänomen El Niño und seiner gegensätzlichen Kaltphase La Niña verbunden. Schauen wir in die Vergangenheit, gab es allerdings auch früher große Perioden mit Super-El- Niños und La-Niña-Phasen. Das heißt, wir können trotz des dramatischen Hochwassers nicht belegen, daß es einen Trend zu mehr Niederschlägen gibt.

Welche Ursachen hat die Hochwasserkatastrophe?

Das Hochwasser hat lokale Ursachen. Das größte Problem sind die fehlenden Wasserrückhaltegebiete, also Polder und flußnahe Gebiete. Fast alle natürlichen Rückhaltegebiete sind verloren durch den Bevölkerungsdruck. Die 350 Millionen Menschen am Mittel- und Unterlauf des Jangtse brauchen Platz. Der Landhunger ist groß. Das Jangtse-Gebiet ist Chinas Kornkammer und erwirtschaftet 40 Prozent der Agrar- und Industrieproduktion. Die Menschen siedeln in von der Regierung ausgewiesenen eingedeichten Wasserrückhaltegebieten. Wenn diese Gebiete für Wasser genutzt werden sollen, müssen die Menschen evakuiert werden.

Die offiziell ausgewiesenen Rückhaltegebiete wurden zwischen 1991 und 1995 von 45.900 auf 33.000 reduziert. Das sind Polder, eingedeichte Gebiete und flußnahe Gebiete. Eine weitere Ursache ist die Eindeichung in Verbindung mit Sedimentation, also Sandablagerungen. Der Jangtse liegt am hochwassergefährdeten Mittel- und Unterlauf streckenweise 15 Meter oberhalb der Umgebung, was einen Dammbruch sehr dramatisch macht. Diese Aufsedimentation hat mit der beschleunigten Eindeichung seit 1540 unter der Ming-Dynastie begonnen. Bessere Deiche haben also paradoxerweise zur Verschärfung der Gesamtsituation beigetragen. Früher brachen die Deiche frühzeitig, während sie heute erst relativ spät brechen, wenn sich die Hochwassersituation schon weit zugespitzt hat.

Ist der im Bau befindliche Drei- Schluchten-Staudamm ein Mittel gegen das Hochwasser?

Der Einfluß des Staudamms wird sehr gering sein, denn bei den Überschwemmungen kommen die Hauptwassermassen in der Regel von den Seitengebieten auf den letzten 1.500 Kilometern vor der Mündung. Das, was als Zufluß vom Oberlauf kommt, ist selten hochwasserentscheidend. Wenn in einer Hochwassersituation dieser Zufluß vom Oberlauf gestoppt wird, reduziert das den Wasserpegel nur um einige Zentimeter. Es könnten die entscheidenden Zentimeter sein. Aber wer jetzt im Rückhaltegebiet lebt, wird auch künftig unter Hochwassern leiden.

Wie kann der Hochwasserschutz verbessert werden?

Die einzige Lösung wird sein, die Deiche noch weiter zu erhöhen. Das Problem der Ablagerungen im Flußbett von 5 bis 10 Zentimetern pro Jahr verschärft die Situation noch. Auf Jahrzehnte bezogen, fehlt dann plötzlich ein ganzer Meter Deichhöhe. Bisher hat die Regierung relativ gute Deiche mit einer Gesamtlänge von 64.000 Kilometern gebaut, davon sind 13.300 Kilometer Hauptdeiche. In Folge des Bevölkerungsdrucks und dem damit verbundenen Landmangel ist die bessere Lösung – ausreichende Wasserrückhaltegebiete – kaum möglich.

Man wird die Leute nicht mehr aus den Rückhaltegebieten herausholen können. China muß jetzt schon Lebenmittel importieren, und wenn es auf diese Gebiete verzichten sollte, wird sich die Situation weiter zuspitzen. Wir erfassen über Satellitenbildinterpretation die Landnutzung und hoffen so Risikogebiete ausweisen zu können. Dort sollte dann möglichst keine Industrie angesiedelt werden. Interview: Sven Hansen