Tempel der Liebe, Dach aus Beton

■ Kurorchester, Knitting-Factory-Erprobte und marodierende Hunde beim 4. „Jazz in Hamburg“

Hoch Carlos und 100 Prozent Jazzwahrscheinlichkeit herrschten am Wochenende beim alljährlichen Open-Air-Festival Jazz in Hamburg in Planten un Blomen. Zwischen Mainstream und Avantgarde geriet die geordnete Jazzwelt der fast 6000 BesucherInnen nur selten aus den Fugen. Zugegeben: Wo es wenig Grenzen gibt, ist es schwierig, welche zu überschreiten. Beim Jazz ist das so eine Sache. Improvisieren, den Dingen ihren Lauf lassen – und sie wieder einfrieden– kann überraschende Ergebnisse produzieren. Oder Langeweile.

Ein Dilemma, wie es zum Beispiel beim Auftritt des Oldenburger Joachim Raffels Quintetts aufleuchtete: Immer wenn sie dem freien Zusammenspiel frönten, druckvoll und akzentuiert, ergaben sich neue Soundebenen. Verfiel die Musik in Mitwipp-Klänge und endlose Soloparts, waren es altbackene Handwerkermelodien.

Die Spielarten auf dem vierten Festival des Jazzbüros waren vielfältig, aber fast alle hatten einen festen Platz im zeitgenössischen Kanon des Jazz. So ertönten jazzoide Klangkaskaden, die sich Elemente aus Folklore, Tango, Latin und dem klassischen Jazzrepertoire entlehnten. Zickige Modernität traf auf Vocal Jazz zum Mitsummen, auf Improvisationen und wildes Geblase. Einen der frischeren Eindrücke hinterließ das Ensemble Disco 3000 mit munteren Expeditionen ins Archiv von Space-Meister Sun Ra. Das 15köpfige Bandmonster verband Improvisationsgespür mit dem Spaß am Dampfmachen.

Als Headliner des Sonnabends erschien die Hamburg-New Yorker, Knitting-Factory-getestete Formation Po'azz Yo'azz. Drum –n' Bass, Poetry, Jazz und Dancefloor webten die drei Frauen und der Schlagzeuger in einen eigenwilligen Patchwork-Klangteppich. Predigerinnengleich versuchte die Jazzpoetin Martha Ciander die nur unwillig auftauende Besucherschar ins Bild zu rücken: „We' re gathered here in a modern chapel of love“, ließ sie das auf weißen Metallkorbstühlen festgeschweißte Publikum wissen. Schnell flossen ihre Reime vor polyrhythmischen Percussionen, durchsetzt mit Soundbruchstücken von DJ Marga Glanz, mal melodiös, mal verzerrt von Sabine Worthmanns pumpendem Kontrabaß in andere Richtungen getrieben - so riß das Quartett Varianten von Jazz an, ohne zu verraten, wohin es geht. Darin waren sie dem am Sonntag spielenden Hamburger Posaunenurgestein Heinz-Erich Gödecke ähnlich.

Die Atmosphäre in den Parkanlagen nährte sich aus den üblichen Festivalzutaten, wie marodierenden Hunden und Einzeltänzern vor der Bühne. Eine Mischung aus Kurkonzert und südländischer Großfamilien-Ausflugsstimmung. Ein starkes Bild bot auch die Bühne des Musikpavillons: Futuristisch, sakral gestaltet, versinnbildlichte es die musikalische Berechenbarkeit von Jazz in Hamburg – ein Dach aus Beton, aber nach drei Seiten offen.

Thomas Schulze