Metaphysische Gemütlichkeit

Der Konservative haßt Märchen – und schreibt doch Lügengeschichten in sein Parteiprogramm: Ein Porträt der CDU  ■ Von Ludwig Harig

An die genauen Umstände erinnere ich mich nicht mehr, aber daran: Helmut Kohl schleudert den Genossen der SPD seine Meinung über ihre Vorstellungen von Zukunft und Entwicklung entgegen. Er sagt nicht Märchen, in bösartigem Ton höhnt er Grimms Märchen: Aus seinem Mund klang es so, als hätte sich eine Meute würdeloser Kolporteure erdreistet, eine Sammlung unseriöser Lügengeschichten in Umlauf zu bringen.

Im Märchen schmäht Kohl die Kräfte der Utopie, die Macht der Visionen, aus denen die zukünftigen Lebensmöglichkeiten entspringen. Denn im Märchen, jener poetischen Kunstform des Utopischen, wird immer eine Grenze überwunden: Ich sehe Hänsel und Gretel über ein großes Wasser ins heimische Holzhackerhaus zurückkehren, begegne Jorinde und Joringel auf ihrem Heimweg durch dicken Wald – und mit ihnen trete ich aus dem zauberischen Reich der Phantasie zurück in die Gegenwart der äußeren Wirklichkeit, habe mit ihnen Glück und Leid erfahren, habe gelernt, bin reifer geworden. Unsere Rückkehr hat kein abgedroschenes Happy-End, weder leichtfertige Ausreden noch unbedachte Versprechungen haben sie ermöglicht, woraus im wirklichen Leben allerdings der skrupellose Politiker seine Zukunftsaussagen bezieht.

Der wahre Märchenerzähler, den Helmut Kohl diffamiert, ist Experimentator. Er spielt die Erlebens- und Übereinstimmungsmöglichkeiten wie der Naturwissenschaftler seine planmäßig angelegten Versuche durch: Er scheut weder Konfliktsituationen noch Erwartungstäuschungen, seine Übertragungen von der inneren Wirklichkeit irrealer Zauberwelt auf die äußeren realen Umstände öffnen den Blick ins Kommende, wohin die wahren politischen Visionen reichen, vor denen die Vertreter der CDU von Anfang an zurückgeschreckt sind. Auf Ernst Blochs visionäres Tableau aus dem „Prinzip Hoffnung“, gesucht und gespiegelt werde das Goldene Zeitalter, wo bis ganz hinten ins Paradies hineinzusehen sei, spuckten die christdemokratischen Pragmatiker Anfang der siebziger Jahre schon Gift und Galle, doch die trivialen Märchen der Börsenkurse und des Wachstums, der Weltwirtschaft und der Staatslehre – die Wolfgang Koeppen in seinem Vorwort „Märchendank“ so leidenschaftlich anprangert – verbreiten sie mit glatter Zunge. Ihren unglaubwürdigen Heilrufen zur Sicherheit des gesellschaftlichen Lebens fügten sie sogar die Lügengeschichten von den blühenden Landschaften und der Halbierung der Arbeitslosigkeit schamlos hinzu.

Wie wahr dagegen ist Blochs Märchen vom besseren Leben, das sich erst dann entfalten kann, wenn die gesellschaftlichen Widersprüche nicht vorschnell und halbherzig aufgehoben scheinen: „Der Vorschein des Rechten tritt weiterwirkend, als allein weiterwirkend hervor.“ Auch ich selbst, ein begeisterter Geschichten- und Märchenerzähler, wollte mit meinen frühen Romanen „Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung“ und „Allseitige Beschreibung der Welt zur Heimkehr des Menschen in eine schönere Zukunft“ einen Schimmer dieses Vorscheins aufglänzen lassen.

Helmut Kohl, die Radikalität des Phantastischen fürchtend, verabreicht dem Bundesbürger seine Märchenschelte wie schon Konrad Adenauer zwanzig Jahre vor ihm. Keine Experimente! verordnete Adenauer Mitte der fünfziger Jahre einem ganzen Volk. Diese Programmatik – verhärtete Standpunkte, starre Dogmen, ewige Wahrheiten – ist bis heute alleingeltende Zielsetzung der CDU geblieben, sozusagen Vorläufer und Motto von Kohls Märchenschimpf: Was Kohl ins Nebensächliche, Harmlose, Unwirksame herunterwürdigte, stilisierte Adenauer zum Gefährlichen, im Blochschen Sinne zum Weiterwirkenden im Programm des politischen Gegners hinauf. Wo im Märchen nicht das Bestreben erkannt wird, Möglichkeiten auszubreiten, sondern in ihm die Absicht gesehen wird, das sogenannte Machbare in Frage zu stellen, wird das Experiment nicht als Versuch angesehen, vorgespielte Möglichkeiten zu erproben, sondern als riskantes Unternehmen, Sicherheiten und Errungenschaften fahrlässig zu erschüttern, ja Anarchie heraufzubeschwören. Weil ich selbst teilgenommen habe am Streit um die geltenden Maximen, erinnere ich mich so lebhaft dieser Zeit, da die Grundsätze entwickelt wurden für die herrschende Politik der Bundesrepublik in all den kommenden Jahrzehnten. Just im selben Jahr, als Adenauers Parole Keine Experimente! erklang, gründete der Stuttgarter Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Max Bense seine Zeitschrift augenblick mit dem Vorsatz: „Was im augenglick zum Abdruck kommt, hat den Sinn, Zeichen eines neuen Seins oder Zeichen eines Widerstandes gegen das Alte zu sein. In beiden Fällen wendet man sich gegen das neue deutsche Nivellement.“

Experimente am Körper der Sprache

Bense beschreibt dieses Nivellement und ortet die politische Stimmung, die ökonomischen Wunder, die sozialen Flirts genau dort, wo die herrschende CDU sich nur auf die Tradition statt auf Experimente bezieht, in der „metaphysischen Gemütlichkeit, die den Autoritäten zugesteht, was sie der eigenen Existenz nicht zu überlassen wagt... Experimente: Wir halten sie für notwendig, wo es um ein neues Sein geht.“ So hochgemut, ja hochgestimmt Benses Worte auch klingen mögen, so groß sein Aufruf zum neuen Sein uns heute anmuten mag, damals waren sie notwendig und wohlformuliert für unseren Enthusiasmus, wie es Begriffe aus ihrem Geist heute wieder wären.

Es waren Versuche am Körper der Sprache, mit dessen Äußerlichkeiten, ja Oberflächlichkeiten sich vierzig Jahre später eine Rechtschreibreform beschäftigt. Wie ein Physiker oder Chemiker habe ich damals meine Versuche durchgeführt, isolierte sorgfältig und planmäßig Einzelelemente aus ihren Zusammenhängen, variierte und kombinierte sie, betrachtete die neu gewonnenen Verbindungen mit Aufmerksamkeit und imponierte mir mit Ergebnissen, die ich für außergewöhnlich, für sensationell hielt. Meine Elemente waren Buchstaben, Wörter und Sätze, meine Hand- und Kunstgriffe mit ihnen sahen allerdings den Manipulationen mit physikalischen oder chemischen Elementen aufs Verwechseln ähnlich: Die neu entstandenen Erscheinungsformen glichen den naturwissenschaftlichen wie ein Ei dem anderen. Wie notwendig wäre es gewesen, hätten sich die Repräsentanten der herrschenden CDU Gedanken darüber gemacht, ihrerseits Versuche am Körper der durch den Nationalsozialismus verdorbenen Gesellschaft anzustellen, anstatt in metaphysischer Gemütlichkeit vor sich hinzudämmern und zur Abwehr des scheinbar Gefährlichen die Begriffe Märchen und Experiment negativ mit konservativem, ja reaktionärem Beigeschmack zu belasten und dann zu bekämpfen.

Fortschritt mit christlicher Bremse

Es ist sicher ungerecht, einer Partei wie der CDU vorzuwerfen, sie suhle sich deshalb so behaglich in ihrer Machtfülle, weil sie ihre Grundsätze bedenkenlos verleugnet und auch gern mal das Gegenteil von dem tut, was sie sich so feierlich ins Gebetbuch geschrieben hat. Mein Vorwurf ist deshalb so ungerecht, weil jeder anderen Partei unwiderstehliche Verlockungen im gleichen Sinne vorgehalten werden könnten – doch so zynisch die CDU sich selbst widerspricht, widerspricht sich keine andere. Keine Partei wirft sich dem Kapital temperamentvoller an den Hals als die christliche, keine biedert sich dem Militär unterwürfiger an als die, deren Gesinnungen und Rituale von den Weisungen der Bergpredigt her begründet sein müßten. Man hat nie davon gehört, daß Pfarrer Hintze bei einer Sitzung des Arbeitgeberverbands auf den Tisch gehauen und Herrn Stihl zugerufen hätte: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme“ – und es ist anläßlich des jüngsten Gelöbnisses der Bundeswehr nichts von einem Brief Hintzes an den Bundesverteidigungsminister bekanntgeworden, worin es geheißen hätte: „...daß ihr allerdings nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel noch bei der Erde.“

Im Gegenteil: Zum unausgesprochenen inneren Widerspruch, den sie aushalten muß, kommt das lauthalse Bekämpfen jedes Widerspruchs hinzu. Dabei ist die CDU als politische Partei unlösbar verstrickt in die Spielprozesse paradoxer Strukturen, die ja nicht irrealer, sondern realistischer Natur sind, Abbilder der wirklichen Welt. Technische Innovationsbekundung ist in der CDU alles andere als ein Indiz für tatsächliche Entwicklungsfreudigkeit. Im politisch- wirtschaftlich funktionierenden Motor des CDU-Fortschritts muß, weltanschauungs- und programmbedingt, die christliche Bremse eingebaut bleiben, obwohl jeder weiß, daß Entwicklung unaufhaltsam ist.

Die CDU liebt angeblich den Fortschritt, auch wenn er Geld kostet, das sich allerdings gewinnbringend investieren läßt, haßt aber die Utopie, weil sie Geld kostet, was sie als reine Verschwendung ansieht. Dieses halbherzige, ja perverse Verhältnis zu Wissenschaft und Technik läßt sich aus dem religiös jenseitig definierten Menschenbild dieser Partei erklären, das auf Eindeutigkeit angelegt ist. Es schließt das Unberechenbare des Absurden, das Unwägbare des Paradoxen aus. Doch jede Wahrheit, will sie eine treffende Aussage über Erscheinungen und Verhältnisse darstellen, muß neben der Betonung ihres vorgeblichen Sinns auch den ihr innewohnenden Widersinn, ja Unsinn einbeziehen, sonst bleibt sie pures Behaupten wider alle Erfahrung. Denn niemandem, der die Beschaffenheit der menschlichen Natur, ihre unbezähmbare Neugier einzuschätzen weiß, kann verborgen bleiben: Was machbar ist, wird gemacht werden! „Macht euch die Erde untertan!“ Soll die CDU nun diesem göttlichen Geheiß der Bibel folgen, das sie jahrzehntelang für unverzichtbar hielt, oder soll sie sich auf Umwelt- und Artenschutzkonferenzen mit Rettungsprogrammen brüsten?

Ästhetisches Spiel der Möglichkeiten

Was heißt überhaupt wirkliche Welt, was heißt Realität? In seinem Vortrag „Die Austreibung der politischen Vernunft aus dem geistigen Leben“ zitiert Hermann Peter Piwitt einen Satz von Nicolas Born: „Die Realität täuscht über alles andere hinweg.“ Alles andere: Das ist jenes Unsinnige und Widersinnige, das nicht in das alles beherrschende Realitätssystem hineinpaßt, nur im Spiel der Möglichkeiten erfaßt und durchprobiert werden kann. So ist meine ganze Aufregung eigentlich überflüssig, denn alles ist nur ein Spiel, eher von einem höheren ästhetischen als von einem trivialen politischen Reiz. Dieser ästhetische Reiz reicht auf wunderbare Weise in Bezirke hinein, in die eine Partei wie die CDU mit ihrem eingeengten Verständnis von Strategie und Taktik nicht vordringt. Sie fürchtet das Spiel wie der Teufel das Weihwasser, sie hätschelt ihre Berührungsängste und fühlt sich am wohlsten im Dunstkreis ihrer metaphysischen Gemütlichkeit.