Alles naiv – oder was?

■ Im Wahlkampf bleiben die Hoffnungen auf einen wirklichen Richtungswechsel auf der Strecke. Anmerkung eines Enttäuschten

Selten waren die Bedingungen günstiger für einen Wahlkampf, der Hoffnung auf die Zukunft und Lust auf Politik machen könnte. Daß in den Parteien dennoch kaum jemand auf die Idee kommt, den grundsätzlichen Kurs, den die Regierung seit 16 Jahren fährt, ernsthaft in Frage zu stellen, ist vielleicht der größte Erfolg der Koalition.

Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie noch nie. Die Armut wird immer größer, die Schere zwischen Ost- und Westdeutschland ebenso, Sozialleistungen werden abgebaut, Gewalttaten von Jugendlichen nehmen zu, rechte Parteien bekommen Zulauf, das Staatsangehörigkeitsrecht ist noch nicht reformiert, die beitragsfinanzierte Rente steht vor dem Kollaps, die Atomkraft sorgt für Skandale. Von Lust auf Politik ist dennoch wenig zu spüren.

Statt um vorwärtsgewandte Konzepte, geht es darum, die vermeintlichen Schwächen des politischen Gegners auszuschlachten. Die Wahlkampfstrategie der CDU beruht im wesentlichen darauf, Attacken gegen ein mutmaßliches Bündnis der SPD mit den „Kommunisten“ zu reiten und den SPD- Kanzlerkandidaten als charakterlosen Opportunisten darzustellen. Die SPD beschränkt sich auf die Parole „Kohl muß weg“. Die FDP beschäftigt sich mehr mit den Grünen, als mit sich selbst, und startet jetzt doch eine Zweitstimmenkampagne. Und die Grünen? Einen Benzinpreis von fünf Mark wollen sie nicht. Ein Tempolimit auch nicht. Außerdem wollen sie die Aktiengewinne stärker besteuern.

Die Hoffnungen auf einen Richtungswechsel bleiben nicht nur wegen des unproduktiven Schlachtengetümmels auf der Strecke. Werden die Parteien etwas konkreter, zeigt sich: Viel ändern wird sich nicht. Eines der wichtigsten Wahlversprechen der Sozialdemokraten ist die Rücknahme einiger Reformen bezüglich der Rente, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, des Kündigungsschutzes und der Vermögenssteuer. Die SPD verspricht mit diesen „Reformen“ nicht mehr, als den Status quo vom vorigen Jahr herzustellen. War die Situation im Land damals wesentlich besser als heute? Als erste Maßnahme nach der Machtübernahme peilt die SPD ein Bündnis für Arbeit an. Daran hat sich auch die Koalition schon versucht. Erfolg ungewiß. Die Koalition hat eine Steuerreform vorgeschlagen. Also will die SPD auch eine Steuerreform. Dabei hält sie sich im Rahmen der CDU-Reform, die sie lediglich modifiziert. So peilt sie statt 35 Prozent Spitzensteuersatz 39 Prozent an – oder vielleicht doch weniger. Sie plant eine etwas höhere Fahrtkostenpauschale und verteidigt ansonsten heldenhaft das Privileg zahlreicher Steuerbefreiungen etwa bei Nacht-, Sonntags- und Schichtarbeit.

Auch bei den Bündnisgrünen scheint das wichtigste Wahlkampfziel mittlerweile zu sein: Bloß nicht auffallen. Für die Ökosteuer treten sie fast nur noch mit dem Argument ein, daß sie Arbeitsplätze schafft, nicht, daß sie einen Beitrag zum Umweltschutz leistet. Die Forderung der umweltpolitischen Sprecherin nach einem Tempolimit wird selbst aus den eigenen Reihen als kaum verzeihliche Ungeschicklichkeit kritisiert. Parteisprecher Jürgen Trittin bekommt für eine Äußerung über öffentliche Gelöbnisse derartige Prügel von seinen Parteifreunden, daß fast der Eindruck entsteht, die Grünen seien Befürworter öffentlicher Gelöbnisse.

Umweltschutz ist out, seufzen die Grünen resigniert, statt sich darum zu bemühen, das Thema attraktiv zu machen – mit Phantasie und Überzeugungskraft. Umweltschutz ist zeitgemäßer als je zuvor. Denn er schafft neben Arbeitsplätzen und Lebensqualität ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, weil bislang vornehmlich die Reichen es sich leisten können, in gesunder, natürlicher Umwelt zu wohnen. Je attraktiver das Lebensumfeld, desto weniger notwendig ist es, mindestens einmal im Jahr in den Urlaub zu fliegen. So ließe sich mit dem Thema Fliegen umgehen, statt mit der Überlegung einer einzelnen Abgeordneten, Flugreisen zwangsweise zu quotieren.

Statt das Thema Autofahren zu tabuisieren, mit all seinen negativen Folgen für Umwelt und Gesundheit, könnten die Grünen offensiver für eine Gesellschaft mit mehr öffentlichem Nahverkehr, verkehrsfreien Innenstädten und mehr Grünflächen werben. Doch statt an die Richtigkeit ihrer eigenen Überzeugungen zu glauben, kneifen sie vor zweierlei: zum einen vor der Meinung der Mehrheit, die aber ohnehin nicht zu ihren Wählern zählt. Und zum anderen vor dem Argument des Verlusts von Arbeitsplätzen, obwohl damit selbst Transporte mit verstrahlten Castor-Behältern gerechtfertigt werden können.

Es gäbe viele Themen, die darauf warten, besetzt zu werden. Warum geht keine Partei ernsthaft das Thema der Verschwendung öffentlicher Gelder an? Müssen die Parlamente wirklich so groß sein? Müssen Blätter im Herbst mit ohrenbetäubendem Lärm von öffentlichen Grünflächen gesaugt werden? Müssen alle Straßen bei Schnee geräumt werden? Müssen alle Autobahnen für die Belastung von abermillionen Lkw-Fahrten ausgerichtet sein, damit auch weiterhin Krabben aus der Nordsee in Marokko gepuhlt werden können? Das eingesparte Geld könnte besser für Investitionen oder soziale Leistungen ausgegeben werden. Und was ist mit dem Thema Tierschutz, das uns schon allein wegen der Qualität unserer Nahrung betrifft? Warum nicht konsequent Tierversuche, tierquälerische Hühnerfarmen, Transporte von lebendem Schlachtvieh anprangern? In einem Land, daß derart tierliebend ist, müßte es doch möglich sein, damit Sympathie bei den Wählern zu erringen.

Alles naiv – oder was? Zugegeben: Solche Themen lassen sich im Wahlkampf kaum griffig rüberbringen. Außerdem ist Arbeitslosigkeit das Problem Nummer eins. Das heißt aber noch lange nicht, daß alle anderen Themen ohne Belang wären. Es mag sein, daß Volksparteien wie CDU und SPD auf schlichte Parolen setzen müssen, wenn sie die Mehrheit der Wähler erreichen wollen. Die Grünen müssen das aber nicht und brauchen daher gar nicht erst versuchen, es allen recht zu machen. Gerade von ihnen, mit ihrer eher gebildeten Klientel, wird man daher erwarten dürfen, daß sie der Weiter-so-Politik von CDU und SPD einen glaubwürdigen Politikentwurf entgegensetzen. Einen Entwurf, der sich vom kleinkrämerischen, um die Stimmen der Massen buhlenden Mainstream abhebt und Hoffnung macht, daß sich in diesem Land tatsächlich etwas ändern könnte. Markus Franz