Eine folgenschwere Fehleinschätzung

■ Psychisch Kranker zertrümmerte 74jähriger Frau den Schädel – zwei Tage vor der Tat beruhigte Behörde die besorgte Familie: „Ihre Mutter braucht keine Angst zu haben“

Der Mann, der auf der Anklagebank des Bremer Landgerichts sitzt, scheint seine Umwelt nicht immer wahrzunehmen. Die Angaben, die er zur Person macht, sind klar und deutlich. Doch den Blick hält er meist gesenkt und starrt auf den Boden. In „religiösem Wahn“ hat der psychisch Kranke laut Gutachter am zweiten Weihnachtsfeiertag seiner damals 74 Jahre alte Vermieterin mit einer Bratpfanne den Schädel zertrümmert. Die Frau erlitt so schwere Kopfverletzungen, daß sie seitdem im Rollstuhl sitzt und zum Pflegefall geworden ist. Schuldunfähig, versuchter Totschlag, verliest der Staatsanwalt die Anklageschrift. 42 Mal war der Angeklagte in die Psychiatrie eingeliefert worden. Bis März 1997 war er entmündigt.

Auf einen Handstock gestützt, betritt die Tochter des Opfers den Gerichtssaal. Die seelische Belastung habe bei ihr einen Multiple-Sklerose-Schub ausgelöst, sagt sie. Der Angeklagte bewohnte zwei Zimmer unterm Dach und hatte keinen eigenen Eingang. Kurz vor Weihnachten habe der Untermieter ihrer Mutter bereits mit Selbstmord gedroht, erinnert sich die Tochter. Die Polizei bringt den Mann in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses Ost. Einen Tag später wird er wieder entlassen. „Keine Eigen- und Fremdgefährdung“, lautet die damalige Einschätzung der Ärzte.

Doch der Zustand des Mannes verschlechtert sich zusehends. Er redet fast die ganze Nacht laut mit einem imaginären Handy, räumt seine Möbel ins Badezimmer und droht wieder mit Selbstmord. Die Vermieterin macht sich Sorgen und bespricht die Situation mit ihrer Tochter. Zwei Tage vor der Tat hätte sie den sozialpsychiatrischen Dienst in der Helgoländer Straße angerufen, sagt sie. Dieser ist für „akute Krisensituationen“ zuständig. Der Angeklagte ist dort seit Jahren bekannt. „Ihre Mutter braucht keine Angst zu haben“, habe man ihr versichert, sagt die Tochter vor Gericht aus.

Etwa 48 Stunden später, in der Nacht zum 26. Dezember, dringt der Untermieter etwa gegen zwei Uhr laut Anklageschrift in das Schlafzimmer seiner Vermieterin ein und schlägt sie mit der Bratpfanne nieder. Nur mit einem Bademantel bekleidet, läuft der Mann auf die Straße und schreit: „Ich bin der Attaché, ihr seid das Böse.“ Er macht sich an parkenden Autos zu schaffen. Nachbarn alarmieren die Polizei.

Als die Beamten eintreffen, hat sich der Mann schon wieder ins Haus zurückgezogen. „Ich habe die Hexe umgebracht“, stammelt der Mann, als er den Beamten die Tür öffnet. Die Beamten durchsuchen daraufhin das Haus. Unter Säcken mit Unrat, einer Leiter und Koffern finden die Polizisten die schwerverletzte Frau. Einen Monat lang liegt sie auf der Intensivstation, drei Monate wird sie in der Reha-Klinik behandelt. „Sie hat monatelang nur geweint“, erzählt ihre Tochter. Vor der Tat sei ihre Mutter gesund und sehr aktiv gewesen. „Sie will aktiv sein und kann es nicht.“

Die Stellungnahme der Sozialbehörde fällt knapp aus: „Ein folgenschwerer Irrtum“ erklärte ein Behördensprecher, kurz nach der Tat, gegenüber der taz im Januar. Für die Zwangseinweisung hätte es damals keine rechtliche Handhabe gegeben. Das hat sich durch den Überfall unter Umständen geändert. Das Gericht soll jetzt prüfen, ob der Mann in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt untergebracht werden soll.

Der Prozeß wird fortgesetzt.

Kerstin Schneider