Schönheitsfehler in Merkels AKW-Störfallbilanz

■ Umweltministerin freut sich: „Nur 2.030 meldepflichtige Ereignisse“ verzeichnet die Statistik

Bonn/Berlin (taz) – In deutschen Atommeilern ist es in den vergangenen zehn Jahren zu 2.030 „meldepflichtigen Ereignissen“, sprich: Betriebsstörungen, gekommen. Das ergibt sich aus dem Bericht von Bundesumweltministerin Angela Merkel zur nuklearen Sicherheit an die Internationale Atomenergiebehörde, den das Kabinett gestern verabschiedet hat. Zwischen 1988 bis 1997 habe es demnach nicht einen einzigen „Störfall“ entsprechend der internationalen Definition gegeben, berichtete die Ministerin. Alle Zwischenfälle entsprächen den beiden unteren von sieben Stufen der Skala INES, nämlich Stufe 1 – „Störungen“ (39 Fälle) – und Stufe 0 – „keine sicherheitstechnische Bedeutung“. Merkel sprach von einem „im internationalen Vergleich hervorragenden Sicherheitsniveau“.

Allein der Störfall im AKW Unterweser Anfang Juni stört die schöne Bilanz (taz vom 19.6. 98). Er rangiert auf Stufe 2 der INES- Skala und gilt damit auch offiziell als „Störfall“. Damals war bei der Suche nach einem Leck im Turbinenölsystem durch einen Bedienfehler der Druck im Dampferzeuger angestiegen – eine Schnellabschaltung wurde nötig. Danach mußte wegen drohender Überhitzung Dampf abgelassen werden. Dabei stellte sich heraus, daß eins von vier Sicherheitsventilen Wochen zuvor vorschriftswidrig per Hand verriegelt worden war und sich nicht öffnen ließ. Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz erstattete nun Strafanzeige gegen die Betreiber – Verdacht auf fahrlässige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.

Aber auch die kleineren Zwischenfälle sind für Christian Küppers, Atomexperte des Ökoinstituts Darmstadt, keine Kleinigkeit. „Das sind die kleinen Ereignisse, die nur zusammen an einem Reaktor zur selben Zeit auftreten müssen, damit es zu einer Kernschmelze kommt.“ Gerade daher rührt nach Meinung von Experten die Havariegefahr. „Für Biblis ergaben offizielle Schätzungen eine Wahrscheinlichkeit von eins zu 33.000, daß es in einem Jahr zu einer Kernschmelze kommen könnte.“ Rechne man das auf alle 19 AKWs und auf eine Laufzeit von 40 Jahren hoch, komme man auf eine Wahrscheinlichkeit von „über zwei Prozent“ für eine Katastrophe wie in Tschernobyl.

Greenpeace-Aktivisten besetzten gestern den als besonders störanfällig geltenden Atomreaktor in Stade, der laut Merkel am stärksten vom Stopp der Atomtransporte betroffen ist. Seine Auffanglager seien fast voll. Bis Ende September gibt es aber keine Probleme: Merkel will den Transportstopp „mit Sicherheit“ nicht vor der Bundestagswahl aufheben. bg, Matthias Urbach