"Das ist spekulative Software"

■ Matthew Fuller und die britische Künstlergruppe "I/O/D" haben einen eigenen Web-Browser entwickelt. Der "WebStalker" stellt die Webseiten nicht dar, er analysiert ihre Struktur

taz: Auf der Website www .backspace.org/iod/ stehen drei verschiedene Pressemitteilungen über den WebStalker. Eine richtet sich an die Kunstszene, eine an die Designszene und eine an Netzaktivisten. Was ist der WebStalker? Ist er Kunst, Design oder Politik?

Matthew Fuller: Das bewegt sich auf mehreren Ebenen. Kunst gibt einem die Lizenz, unverantwortlich zu handeln. Wir sind eben bloß Künstler, keine Software-Designer. Andererseits funktioniert der WebStalker als Software, und ich nehme an, daß viele Leute, die das Ding benutzten, gar nicht wissen, daß es ein Kunstprojekt ist. Wir sehen das nicht als Antikunst, sondern eher als Nicht-bloß- Kunst. Es funktioniert zwar im Kunstkontext, aber dieser Aspekt kann auch vollkommen ignoriert werden.

Als Software betrachtet, ist der WebStalker ein Browser. Was ist bei ihm anders als bei den entsprechenden Programmen von Netscape oder Microsoft?

Wenn man eine Adresse eingibt, beginnt der WebStalker sofort, die Struktur dieser Site zu analysieren. Er folgt den Links, und während er sich durchs Netz bewegt, zeichnet er eine Karte, durch die er wandert. Dadurch entsteht so eine maschendrahtartige Darstellung des Netzes. Während er ununterbrochen Sites kartographiert, kann man anfangen, daraus die Daten zu extrahieren. Zur Zeit kann man auf diese Weise den Text oder den HTML-Quellcode herausziehen, außerdem die E- Mail-Adressen oder die Links. Weiterhin gibt es eine Funktion, die „Ignore“ heißt. Damit kann man bestimmte Sites ausschließen. Wenn du den Stalker viel benutzt, stellst du schnell fest, daß etwa 50 Prozent aller Sites einen Link zu Microsoft haben. Da sieht man, wie Macht verteilt wird.

Wir wollten erreichen, daß die Leute das Web sozusagen live editieren können. Netzfilter-Programme wie „Net Nanny“ machen ja vollkommen repressiv bestimmte Sites für Kinder unzugänglich. Wir wollten etwas Einfacheres und Flexibleres, das man gegen jede Site einsetzten kann, die man nicht sehen will.

Bieten die kommerzielen Browser nicht genug Möglichkeiten, durch das Web zu surfen?

Sie bieten eine Menge Möglichkeiten, aber sie regulieren auch, was der User zu sehen bekommt, und – was noch wichtiger ist – sie beeinträchtigen das Potential, Sachen auf eine andere Art und Weise zu sehen, zu verstehen und zu tun. Sehen Sie sich zum Beispiel mal eine Website mit einer Menge neuer Features wie Frames, Java oder VRML mit einem Browser von 1994 an. Da ist man mehr oder weniger ausgeschlossen. Die Art Interaktion, die im Netz möglich ist, wird von der Technologie, die man benutzt, bestimmt. Andererseits sieht man sich Websites selten so an, wie man sie ansehen soll. Man kann zum Beispiel die Bilder abschalten, oder keine Cookies zulassen. So was wollten wir auch mit dem WebStalker erreichen.

Eines Ihrer früheren Projekte war ein Computer-Interface, das von Klängen gesteuert war. Der Benutzer mußte nach seinem Gehör durch das Programm navigieren statt mit visuellen Signalen. Diese Methode gleicht dem WebStalker, weil sie der Normalität widerspricht. Trotzdem kommen die meisten Leute mit den üblichen grafischen Oberflächen der Browser ganz gut zurecht, oder nicht?

Ja, aber das liegt daran, daß sie von der Software, mit der sie arbeiten, normalisiert worden sind. Es gibt eben auch andere Möglichkeiten, mit Software zu arbeiten, die durch die Vorherrschaft der Windows-Metapher, die Page-Metapher und andere Arten, den Computer benutzbar zu machen, nicht berücksichtigt werden. Wir glauben, daß die heutigen grafischen Oberflächen unter einem konzeptuellen Millennium Bug leiden. Wir wollten ein Stück Software produzieren, das das Netz mit seinem spezifischen Eigenschaften ernst nimmt – als Netzwerk, nicht als Buch. Natürlich wird die Buchmetapher jetzt auch von Sachen wie RealAudio und anderen Datentypen unterminiert. Wir finden, daß es wichtig ist, daß man das Netz mit seinem Datenfluß und seiner Dynamik ernst nimmt.

Ist das eine Art Aufklärung?

Nein, ich glaube, daß der WebStalker das Potential des Netzes besser ausnutzt. Die gängigen Browser zeigen eine Website als eine bestimmte Datenmenge an. Wir zeigen, daß das Web und die Zahl der Daten im Netz potentiell unendlich sind. Normale Browser beschränken diese Daten, darum sind sie einfacher zu benutzen.

Steckt dahinter nicht auch ein gewisser künstlerischer Größenwahn? Will der WebStalker den Leuten zeigen, was unter der Oberfläche steckt, will er demonstrieren, wie das Netz wirklich ist, als eine Art Ding an sich?

Wir haben immer gesagt, daß der WebStalker nur eine Art und Weise ist, das Netz zu benutzen. Er ist nicht das authentische Ding schlechthin, sondern nur eine bestimmte Sichtweise. Uns ist wichtig, daß solche Arbeiten potentielle Alternativen dazu aufzeigen, wie man normalerweise das Netz benutzt.

Sie haben in dem Online-Magazin Telepolis einen Essay über den amerikanischen Konzeptkünstler Gordon Matta-Clark veröffentlicht. Matta-Clark hat in den siebziger Jahren Häuser zersägt und auseinandergenommen, um ihre Struktur zu zeigen. Ist das auch die Methode des WebStalkers? Dieser Tradition?

Ich denke, daß Matta-Clark und unsere Arbeit ähnliche Themen haben und daß wir auf gewisse Weise von ihm gelernt haben. Seine Herangehensweise an die Architektur kann ein gutes Vorbild für Künstler sein, die heute mit dem Netz arbeiten. Matta-Clark hat sich einer materialistischen Methode bedient. Wenn sich Künstler stärker mit den tatsächlichen technischen und ästhetischen Paradigmen des Netzes beschäftigen würden statt mit Virtualität und Repräsentation, kämen dabei viel bessere Kunstwerke heraus.

Das Design auf dem Bildschirm ist so einfach wie möglich, der WebStalker sieht sehr schlank und sehr modernistisch aus. Er erinnert ein bißchen an die monochromen Gemälde der klassischen Avantgarde...

Na ja, so ein Interface braucht eben am wenigsten Speicherplatz.

Aber es hat auch einen materiellen Aspekt. Die Farben kommen mir nicht willkürlich gewählt vor. Das Ganze könnte auch nur weiß sein, aber eine der Farben, die man mit einem kleinen Menü einstellen kann, ist ein militärisches Oliv. Warum?

Als wir am WebStalker gearbeitet haben, sind wir in eine Menge Boutiquen gegangen, um zu sehen, welche Farben gerade angesagt waren. Wenn Sie sich die Modezeitungen von Ende 1997 ansehen, werden Sie sehr schnell verstehen, wie wir gerade auf diese Farben gekommen sind.

Es sieht aber eher altmodisch aus. Internet-Oldtimer beklagen immer wieder, daß das Internet heute kein ausschließlich textbasiertes Medium mehr ist und daß die Leute jetzt nur noch auf kleine Bildchen klicken. Ist der WebStalker nicht auch ein Teil dieser bloß nostalgischen Kritik?

Nein, diese Text-only-Interpretation mißversteht, was wir mit unserem Projekt eigentlich erreichen wollen. Die Idee beim WebStalker ist, das technisch-ästhetische Monopol von Netscape und Microsoft offenzulegen. Wir nennen das „spekulative Software“. Wir hoffen, den Leuten damit zeigen zu können, daß das Netz ein Ort für Neuschöpfungen im weitesten Sinne ist.

Es geht nicht darum, daß Internet auf Text zu reduzieren. Man darf nicht vergessen, daß es sich bei unserem Programm um ein Kunstwerk handelt, nicht um eine kommerzielle Software. Wir wissen, daß der WebStalker Bilder zeigen könnte, wenn wir noch ein, zwei Monate daran arbeiten würden. Wir hatten eine ganze Liste von Features, die wir noch hinzufügen wollten, aber an einem bestimmten Punkt mußten wir einfach damit aufhören, weil wir kein Geld mehr hatten und weil wir an anderen Sachen arbeiten wollten.

Aber man könnte eine verbesserte Version machen, wenn man weiter daran arbeiten würde?

Wenn wir das Ganze in Java entwickeln könnten, vielleicht mit ein paar anderen Leuten daran arbeiten könnten und es einigermaßen vernünftig finanziert wäre oder wenn wir es als Open-Source- Programm produzieren könnten, könnte man noch einige weitere Features einfügen. Wir haben noch einige Ideen in petto, wenn sich eine Möglichkeit ergeben sollte, weiter an dem Projekt zu arbeiten.

Was könnte denn jemand mit dem WebStalker anfangen, der das Internet etwa aus geschäftlichen Gründen benutzt?

Wir haben schon von Leuten gehört, die ihn dazu benutzt haben, ihre eigenen Sites zu analysieren. Forscher benutzten ihn, um einen besseren Überblick über das Web und die dort zur Verfügung stehenden Ressourcen zu bekommen. Leute, die wirklich nur die harten Informationen wollen, können mit dem Stalker besonders viel anfangen – ganz egal, ob sie das jetzt aus legitimen Gründen tun oder ob sie zum Beispiel schnellen Zugang zu Pornographie wollen. Anscheinend und sehr zu unserem Mißfallen benutzt zum Beispiel die U.S. Navy den WebStalker. Leute in den seltsamsten Institutionen verwenden das Programm, weil sie riesige Datenmengen zu verwalten haben. Interview: Tilman Baumgärtel

baum@snafu.de