Die Stones kompostieren in Moskau

30 Jahre nach der ersten Anfrage gaben die Rolling Stones am Dienstag in Rußlands Hauptstadt ein Konzert. Zu ihrer Riesenausrüstung gehörte auch eine Anlage zur Kompostierung von Lebensmittelresten  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Über 30 Jahre haben die Rolling Stones und die RussInnen aufeinander gewartet. Nachdem Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ron Wood nun allesamt über 50 sind, kamen sie endlich nach Moskau – während der Promotion-Tour für ihr 26. Album „Bridges to Babylon“. Am Dienstag abend stellte sich heraus: Das Warten hat sich gelohnt.

In den sechziger und siebziger Jahren galten die Rolling Stones in der Sowjetunion als Freiheitssymbol. Sie verkörperten die Möglichkeit, im Privatleben nach eigener Fasson selig zu werden. Den Kalten Krieg und das eigene Rebellen- Image machte Jagger am Montag auf einer Pressekonferenz in Moskau dafür verantwortlich, daß 1967 sein erster Antrag auf ein Konzert zurückgewiesen worden war.

Das Moskauer Sportstadion Luschniki, in dem man zusätzlich zu den überdachten Tribünen noch Sitzplätze auf dem Spielfeld unter freiem Himmel aufgestellt hatte, war am Dienstag abend nur etwas mehr als halb voll. Aber die – nach verschiedenen Schätzungen – 50.000 bis 70.000 Versammelten heizten das Gelände trotz naßkalten Nieselwetters gründlich auf. Vom Twen bis hin zum 68er waren alle Generationen vertreten, ganz wie auf einer friedlichen Familienfeier.

Die Zeit hatte die Rollen merkwürdig verkehrt: Die russischen ZuschauerInnen von heute unterschieden sich äußerlich durch nichts von den Stones-Fans in irgendeinem westlichen Land. Die Stars hingegen trugen kiloweise Schminke im Gesicht und waren während der ersten Auftritte zu allem Überfluß in eine Art Trainingsanzüge gezwängt. Auf diese Weise schafften sie es, den weiblichen und männlichen Sowjetmenschen der sechziger Jahre gleichzeitig zu ähneln.

Die Eintrittskarten hatten umgerechnet zwischen 40 und 100 Mark gekostet. Weder den Preis noch seine lange Anfahrt empfand Architekt Igor (30) aus der Ural- Stadt Tscheljabinsk als Problem. „Ich habe extra Urlaub genommen und habe mich wochenlang auf diesen Tag gefreut.“ Igor hat seine Schwäche für die Rolling Stones von seinen Eltern geerbt. Die holten ihn als Kind einmal extra aus dem Bett, weil Abendbrot-Gäste eine Kassette mit einem wunderbaren Song mitgebracht hatten: „Paint it black“. Im Ferienlager hörte er dann heimlich unter der Bettdecke Radio Liberty, um ab und zu ein paar Stones-Songs zu erhaschen. Igor war bei weitem nicht der einzige Provinzler unter den Zuschauern. Ein paar Reihen weiter fanden sich wettergegerbte Petroingenieure aus dem sibirischen Tjumen – mit Wunderkerzen.

Auf 34 Mammut-Trucks hatten die Stones ihre phantastischen Dekorationen und sonstige Ausrüstung ins Land gekarrt. Die Moskauer Presse hob hervor, daß sich darunter sogar eine Anlage zur Kompostierung von Nahrungsmittelabfällen befand. Zu ihrem eigenen festen Stab von 200 Leuten heuerte die Gruppe zusätzlich noch 800 örtliche Helfer an. Auf ausdrücklichen Wunsch der Stars erteilte man den russischen Security Guards vorab ein paar Sonderlektionen in Rücksichtnahme auf das Publikum. Über 8.000 Milizionäre und Soldaten stellte die Stadt zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung während des Konzertes ab.

Ganze zweieinhalb Stunden, zuletzt schon mitten im Wolkenbruch, rockten die alten Knaben diszipliniert. Mick Jagger begrüßte und verabschiedete seine Gäste in fließendem Russisch. Und während die Tanzenden im Stadion reihenweise in den Pfützen ausrutschten, vollführte er pitschnaß, aber ohne Stolpern, seine berühmten, bühnenausschöpfenden Dauerläufe. Dazu hatte er diesmal besonders viel Platz. Die etwa 50 Meter breite Bühne war an beiden Seiten durch je einen noch mal so langen, ins Publikum hineinreichenden Pier erweitert worden.

Ein Riesenmonitor in Form eines koketten Jugendstil-Spiegels schwebte über allem und zeigte das Show-Geschehen in Nahaufnahme für die fernab Sitzenden. Die Stones trugen dem Geist des Ortes klug Rechnung, indem sie mit einem Oldie begannen: „I can get no satisfaction“. Der Song „Paint it black“ ließ später die Zuschauerinnen ausflippen und entzündete ihre letzten Feuerwerksreserven. In Rußland haben die Stones bewiesen, daß man gewaltige Energien aufs Überleben konzentrieren und trotzdem lebendig bleiben kann. Auf die Frage nach seiner Moskauer Freizeitgestaltung hatte Mick Jagger bei seiner Ankunft geantwortet: „Wir sind nicht gekommen, um uns zu entspannen, sondern um euch Musik zu bringen.“ „Swoboda!“ rief er seinen Gästen zum Abschied nach: „Freiheit“.