Olympiasieger? Weltmeister? Tour de France!

■ Über den Modus und das zweifelhafte Vergnügen, Weltcup-Rennen zu fahren

Jede Sportart hat ihre eigenen Gesetze. Cricket beispielsweise können nur Engländer und Inder verstehen. Es gibt aber auch Sport, der sieht einfach aus. Radsport gehört dazu. Der Schnellste gewinnt und der Allerschnellste ist Weltmeister, denken alle. Das stimmt aber nicht. Die Frage nach dem Schnellsten unter den rund tausend Radprofis ist einfach falsch gestellt. Radsport besteht aus mehreren Disziplinen und ist so etwas wie Dreikampf auf zwei Rädern. Der superschnelle Italiener Mario Cipollini heftet beispielsweise bei flachen Rennstrecken einen Sprintsieg nach dem anderen an seine Fahnen. Kommt bei Etappenfahrten der erste auch nur mittelgroße Hügel in Sicht, tut ihm das Knie weh und er steigt aus. Andere sind Zeitfahrspezialisten oder sogenannte „Kletterer“, die ab zehn Prozent Steigung den Rest der Konkurrenz schwindelig fahren. Ein potentieller Tour-de-France-Sieger muß gut klettern und zeitfahren, kann bei den Flachetappen in der Regel aber die Beine hochnehmen. Alleskönner wie den „Kannibalen“ Eddie Merckx gibt es nicht mehr.

Die Verwirrung wird komplett, wenn man fragt: Welches Rennen zählt? In kaum einer anderen Sportart sind die Wettkämpfe so von Traditionen und Mythen geprägt wie im Radsport. Ein Olympiasieger wird im Profilager freundlich gegrüßt, aber weniger anerkannt als ein Sieger des ebenso legendären wie anachronistischen Kopfstein-Rüttel-Klassikers Paris-Roubaix. Der offizielle Weltmeistertitel wird in einem Eintagesrennen im Herbst ausgefahren und gilt als „glücklicher Zufall“ oder „verdient“. Je nachdem, wer gewonnen hat.

Die Weltcuprennen – in diesem Jahr darf sich HEW-Cyclassics dazuzählen – nehmen im Radsportzirkus eine Zwitterstellung ein. Der Weltcup ist eine Veranstaltungsreihe mit zehn Eintagesrennen in Europa. Offiziell rangieren sie in der Wertigkeit hinter den drei großen Rundfahrten in Italien, Frankreich und Spanien und gleichwertig mit dem Weltmeistertitel. Im Gegensatz zu diesem müssen jedoch Weltcup-Ambitionierte die ganze Saison über gute Leistung bieten, wenn sie sich Hoffnungen auf die Weltcup-Punkte machen. Darüber hinaus gibt es neben der Einzel- auch eine Mannschaftswertung, die die drei erstplazierten Fahrer eines Teams berücksichtigt.

Aus der Sicht der Teamsponsoren, die einzig und allein an der Medienwirkung ihres Teams interessiert sind, ist der Weltcup also allemal die attraktivere Veranstaltung, und auch für die Fahrer steigt der Marktwert mit zunehmendem Weltcup-Punktestand. Das sichert den Weltcuprennen ein hochkarätiges Teilnehmerfeld. Darin liegt zweifellos ein Gewinn für die Zuschauer. Die Cyclassics konnte man in der Vergangenheit getrost in die Kategorie „Kirmesrennen“ einordnen. Am Sonntag ist das anders.

Die Zuschauer bekommen tatsächlich die Großen des Radsports zu sehen. Die meisten werden allerdings mit dem Namen Michele Bartoli nichts anfangen können. Schade eigentlich, denn der führt im Weltcup zur Zeit nach Punkten, ist also der wichtigste Mann. Aber auch die anderen sind alle dabei. Bis auf Tour-de-France-Sieger Marco Pantani. Der kommt nicht. Ebenso fehlt der französische Radsportrecke Laurent Jalabert. Das ist der Allerwichtigste, der führt nämlich die Radsport-Weltrangliste an. Die gibt es auch noch, aber das ist eine andere Geschichte. Jörn Iken