: Nachtschwärmen auch am Tage
■ Waller Selbsthilfegruppe gibt psychisch Labilen tags und nachts Halt im Cafe Klatsch / Auch „Normalos“ willkommen
„Wer nicht selbst betroffen ist, kann gar nicht mitreden“, erklärt Norbert N., Mitglied der bremischen Nachtschwärmer, seine Situation. Aber auch diejenigen, die nicht „psychiatriebetroffen oder krisenerfahren sind, sind eingeladen, an den Treffen der Nachtschwärmer im Café Klatsch teilzunehmen. Wir sind für die „Normalen“ ein ganz gewöhnliches Café“, sagt Norbert. Schon nach kurzer Zeit merkt man aber: Die Nachtschwärmer, die sich im März 1997 als Verein organisiert haben, sind ein völlig unterschiedlicher Menschenschlag.
Es gibt keine „Szene“, keine gemeinsame Ideologie und erst recht keine gleichen Lebensgeschichten. Aber ein gemeinsames Ziel haben alle: Sie wollen wieder ein halbwegs „normales“ Leben führen. Sie wollen ihre Probleme selbst bewältigen. Notfalls auch kombiniert mit ärztlicher Hilfe. Aber gerade dort scheiden sich die Geister: Die Nachtschwärmer sind eine Selbsthilfegruppe, die vor allem psychisch Kranken eine Anlaufstelle bietet. Obwohl: Den Begriff „psychisch krank“ hören sie nicht gerne. Denn der Übergang vom „gesunden“ zum labilen Menschen ist fließend. Zu den Treffs im Café Klatsch in der Helgolander Straße in Walle kommen Menschen „mit Psychosen, Depressionen, Ängsten. Auch Menschen, die Gewalt in ihrer Beziehung erleben, kommen zu uns“, sagt Norbert N.
„Das Nachtcafé der Nachtschwärmer ist ein alkohol- und drogenfreier Ort. Ein Ort, an dem beginnende Krisen durch Gespräche aufgefangen werden können. Ein Ort, an dem Menschen so sein können, wie sie sind“, beschreibt ein Flyer der Nachtschwärmer das Angebot. Da wundert es auch nicht, daß die erste Vorsitzende des eingetragenen und anerkannten Vereins sich zur Zeit nicht richtig am Vereinsleben beteiligt und auch nicht bereit ist, Fragen der taz zu beantworten. Sie erlebe gerade einen Rückschlag und sei auch in ärztlicher Behandlung, entschuldigt sich die Gruppe für etwas, was für Nachtschwärmer normal, für Besucher des Cafés jedoch eher ungewohnt wirkt.
Das sei auch einer der Gründe, weshalb die Nachtschwärmer jetzt eigene Räume suchten, in denen sie ihre Selbsthilfe mit Gesprächen fortführen könnten. Denn Ende des Jahres laufen die Nutzungsverträge des Café Klatsch aus.
„Das große Problem für uns“, sagt Norbert N, „ist, daß viele nachts nicht allein sein können. Wir können nachts oft auch nicht schlafen, drehen unseren ganzen Tagesablauf um.“ Da hilft das Angebot der Nachtschwärmer, das neben dem Cafébetrieb auch kreative Kurse wie Kochen, Fotoarbeiten, Malen und einige Fahrten beinhaltet, wieder zur Ruhe zu kommen, von den Problemen auch mal abgelenkt zu sein, ohne diese jedoch zu vergessen.
„Wir besprechen uns, geben uns Ratschläge. Viele wollen keine beruhigenden Medikamente, auch wenn wir diese verschrieben bekommen. Unsere Gespräche mit Betroffenen und „Normalen“ helfen da oft besser, als jede Medizin“, sagt Norbert. Er selbst ist in die Gruppe reingeschlittert, als er seinen Job verloren, sein Haus verloren und seine Frau ihn verlassen hatte. „Das war zuviel für mich“, sagt Norbert. Die Nachtschwärmer gäben ihm wieder Mut, sich nicht aufzugeben, aber abends, wenn es um ihn herum ruhig wird, falle er in ein Loch. Er fühle sich hilflos. Und so geht es den meisten „Nachtschwärmern“, nicht nur in Walle.
Sven Kuhnen
Kontakt zu den Nachtschwärmern: Donnerstag bis Sonntag zwischen 20 und 2 Uhr im Cafe Klatsch, Helgolander Straße Ecke Vegesacker Straße
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