Angestaubte Enthüllungsstories

■ „A Chorus Line“ im Schauspielhaus: Ein Musical kommt in die Jahre

Zwanzig Jahre ist es am 21. Mai geworden, Michael Bennetts Musical A Chorus Line. Am Sonnabend hatte es, als diesjährige Sommerbespielung des Schauspielhauses, Premiere an der Kirchenallee. Und um es gleich vorwegzunehmen: Die zwei Jahrzehnte seit seiner Uraufführung sind an dem Stück spurlos vorübergegangen.

Die Story ist schnell erzählt: 24 Tänzer und Tänzerinnen drängen sich auf einer Audition – einer Besetzungsprobe – für ein neues Musical. Sie alle wollen in die Chorus Line, die singende und tanzende Truppe, die im perfekten Gleichklang den Hintergrund für den Star bildet. Nach der ersten Runde bleiben noch 17 übrig. Diese angespannten Künstler fordert der Regisseur aus dem Off nun auf, ganz locker etwas über sich zu erzählen. Die Biografien die bei dieser Prozedur enthüllt werden, haben dann so gar nichts vom Glamour des Broadways: Kaputte Elternhäuser, Probleme mit der Sexualität, nicht zuletzt der gleichgeschlechtlichen, Unzufriedenheit mit dem eigenen Äußeren. Kurz und gut: Die Leute auf der Bühne sind den Menschen im Zuschauerraum zum Verwechseln ähnlich.

Diese Enthüllungen waren zur Uraufführung in den 70er Jahren sicher eine Provokation. Doch heute wirken die wunderhübsch sozialkritisch verpackten Berichte wie ausgelutscht und durchgekaut. Der Eindruck verstärkt sich noch durch die Tatsache, daß man das Stück in der Original-Broadway-Fassung gibt: Das bedeutet, daß noch nicht einmal die Geburtsjahrgänge der Tänzer aktualisiert wurden. Da muß das Publikum dann schnell rechnen, will es verstehen, daß es bei der Auswahl nicht nur um Können, sondern auch um Jugend geht. Ein Tänzer Jahrgang 1948 war 1975? Genau: 27 Jahre alt und somit bereits in einem kritischen Alter für eine Broadway-Show.

Auch die Kostüme und die Choreografie sind den 70er Jahren verhaftet. Da sie aber zu den gemäßigten Vertretern dieser Zeit gehören, bekam die Aufführung nicht mal über die Schiene des Seventies-Revivals neuen Schwung.

Im Vergleich mit dieser konservativen Inszenierung wirkte das Musical in der aktualisierten deutschen Fassung, die die Stage School of Music, Dance and Drama vor zwei Monaten auf Kampnagel gezeigt hat, frischer und überzeugender. Und das trotz der darstellerischen Überlegenheit der New Yorker Profis. Very seventies, indeed.

Iris Schneider