Die globale Nation

Das jüngste Gerangel um die Einrichtung eines Weltgerichtshofes schafft Verwirrung: Sind die klassischen Nationalstaaten nun am Absterben oder werden sie eine Renaissance feiern? Über den Zustand nationaler Souveränität  ■ Von
Andreas Zumach

In Westeuropa und Nordamerika beschwören Politiker und Wirtschaftsführer das Zeitalter der Globalisierung – und das nahe Ende der Nationalstaaten. Die Wirklichkeit jedoch sieht anders aus: In Südosteuropa werden ebenso wie an mehreren Schauplätzen Afrikas blutige Kriege um nationale Unabhängigkeit und Souveränität ausgetragen. Die EU wird zunehmend gelähmt durch nationale Egoismen, Reformunfähigkeit und die Angst vor dem Verlust der eigenen Währungen.

Und die USA wollen sich mit Hinweis auf ihre nationale Souveränität nicht den Urteilen eines Internationalen Strafgerichtshofs unterwerfen. Auch die Rolle des Weltpolizisten, scheint es, will Washington nicht mehr konsequent spielen: Auf eine Festnahme der beiden hauptverantwortlichen bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadzic und Ratko Mladic verzichteten die USA, um eine Destabilisierung Bosniens zu verhindern.

Die Konfusion ist nicht zuletzt eine Folge der Illusionen, die man sich in (West-)Europa und Nordamerika seit Ende des Zweiten Weltkrieges gemacht hat. Auch wenn die damals verabschiedete UNO-Charta und andere Dokumente des Völkerrechts einen anderen Eindruck erwecken mögen: Zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Bildung von Nationalstaaten gab es einen breiten und zugleich global gültigen Konsens über den Inhalt und die praktische Bedeutung des Begriffs der „nationalen Souveränität“.

Dafür verlief und verläuft die Entwicklungsgeschichte in den verschiedenen Regionen dieser Erde viel zu unterschiedlich. Ähnliches gilt für das häufig mit dem Begriff der „nationalen Souveränität“ verbundene Prinzip der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“.

In der von Europa und den USA dominierten Geschichts- und Politikwissenschaft gilt die Herausbildung von Nationalstaaten gemeinhin als zivilisatorischer Fortschritt: die Ablösung von willkürlicher Herrschaft, eindeutig definierte Grenzen, ein staatliches Gewaltmonopol und ein einheitliches Recht sowie ein vom Staat organisierter militärischer Schutz gegen Angriffe von außen.

Die ersten Nationalstaaten entstanden im Mittelalter in Europa mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches. Doch bereits Anfang des zweiten Jahrtausends kam es zwischen den europäischen Nationalstaaten zu ersten völkerrechtlichen Vereinbarungen (See- und Landkriegsrecht, zwischenstaatliche Handelsverträge, Diplomatenaustausch) – und damit zu ersten Einschränkungen der nationalen Souveränität zumindest im außenpolitischen Bereich.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann mit der Gründung des Weltpostvereins und anderen internationalen Organisationen die Bildung multilateraler Institutionen – und damit der Vorläufer des Völkerbundes von 1919 und der heutigen UNO. Die Haager Landkriegsordnung und der Haager Schiedsgerichtshof 1899 und 1907 sind wesentliche Grundlagen des heutigen Völkerrechts.

Doch all diese Vereinbarungen und Institutionen hatten jahrhundertelang keine Relevanz für die von den europäischen Kolonialmächten eroberten Gebiete in Afrika, Asien und Lateinamerika. Selbst die in der UNO-Charta von 1945 niedergelegten Bestimmungen galten zunächst nur für die und zwischen den 51 überwiegend europäischen und amerikanischen Teilnehmerstaaten der UNO-Gründungskonferenz. Erst durch die blutige Entkolonialisierung, durch die zwischen 1947 und 1975 über fünfzig neue Nationalstaaten entstanden und sich die Zahl der UNO- Mitglieder fast verdreifachte, erhielten die Vereinbarungen der UNO-Charta globale Gültigkeit – zumindest auf dem Papier.

Anfang der sechziger Jahre, während die Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sich gerade erst ihre nationale Souveränität erkämpften, begann in Westeuropa bereits wieder die schrittweise Aufgabe dieser staatlichen Selbständigkeiten. Dafür steht die wirtschaftliche Integration zunächst durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), aus der mit fortschreitender politischer Integration schließlich die Europäische Union (EU) wurde.

Zudem besiegelten 1975 die damals fünfunddreißig Staaten Gesamteuropas in der Schlußakte von Helsinki die Unverletzlichkeit der seit 1945 bestehenden Grenzen, vereinbarten Menschenrechtsprinzipien und beschlossen die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet sowie bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung im Rahmen der neu gegründeten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

Der Aufbau multinationaler Institutionen und die, freilich trügerische, Sicherheit der atomaren Abschreckungsordnung nährten die allzu schöne Vorstellung, die BewohnerInnen des Alten Kontinents hätten aus den beiden verheerenden Weltkriegen Lehren gezogen. Militärische Aggression, zwischen- wie innerstaatliche Gewaltanwendung schienen – zumindest in Europa – nicht mehr denkbar.

Mit dem Ende der Ost-West- Blockordnung, den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, Tschetschenien und anderen Territorien der früheren Sowjetunion seit 1991 wurde diese Illusion gründlich zerstört. Doch insbesondere das Versagen der EU angesichts der Konflikte in Kroatien, Bosnien und nun im Kosovo zeigt: Bis heute wurde in Westeuropa die historische Tatsache nicht wirklich akzeptiert, daß die Herausbildung nationaler Souveränitäten und die Ziehung von Grenzen in Osteuropa vor und während des Zweiten Weltkrieges sehr viel weniger ein freiwilliger und demokratischer Prozeß war als im Westen.

Unverstanden in den politischen Eliten Westeuropas bleibt bis heute obendrein, daß die Ergebnisse umfangreicher „ethnischer Säuberungen“ und der Zwangsumsiedlung von Millionen von Menschen seit Anfang dieses Jahrhunderts (nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion, sondern zum Beispiel auch zwischen Griechenland und der Türkei nach den Balkankriegen von 1912/13) von vielen Menschen in Osteuropa eben bis heute nicht akzeptiert sind – und daß daher auch die KSZE-Schlußakte von 1975 auf tönernen Füßen steht.

Zugleich rückte in den letzten Jahren stärker ins Bewußtsein, daß die Konflikte in der „Dritten Welt“ während der vierzigjährigen globalen Ost-West-Konfrontation von den beiden Großmächten USA und Sowjetunion entweder unter der Decke gehalten oder maximal als begrenzte Stellvertreterkriege ausgetragen, keinesfalls aber gelöst wurden.

Zwar hat die Entkolonialisierung den betroffenen Regionen den formalen Status des souveränen Nationalstaates erbracht. Doch insbesondere in Afrika und zum Teil in Asien bestehen die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Kolonialzeit mit Ausnahme einiger weniger Staaten nahezu unverändert fort. Und: Die von den ehemaligen Kolonialherren zumeist willkürlich gezogenen Grenzen erweisen sich in vielen Fällen als Streitpunkt und Auslöser für bewaffnete Konflikte.

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Entwicklungen der Weltregionen können globale Vereinbarungen und Institutionen wie die UNO oder der jetzt so gut wie beschlossene Internationale Strafgerichtshof nur mit großen Einschränkungen funktionieren.

Beispiel sind die internationalen Menschenrechtsnormen. Zwar wurde auf der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien auf dem Papier ein Konsens erzielt. Der Kanon der seit 1945 entstandenen Normen und Abkommen sei „untrennbar miteinander verbunden und universell gültig“ – von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) und den beiden Pakten über die bürgerlichen und politischen sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (1996) bis zu den Spezialkonventionen gegen Folter, Rassismus oder die Diskriminierung von Frauen. Doch in der Praxis wird der Konsens vielfach unterlaufen – und zwar von allen Seiten.

Insbesondere asiatische Staaten pochen unter Berufung auf ihre soziale, kulturelle und religiöse Entwicklungsgeschichte auf Ausnahmen. Und unter Berufung auf ihre „nationale Souveränität“ weisen sie Kritik an ihrer Menschenrechtspraxis zurück als „Einmischung“ in ihre „inneren Angelegenheiten“.

In den westlichen Staaten und den meisten Ländern Osteuropas herrscht inzwischen zwar weitgehend Konsens darüber, daß die Einmischung zwecks Schutz von Menschenrechten legitim ist – notfalls auch mit anderen Mitteln als nur verbaler Kritik. Zugleich ist der Westen wenig glaubwürdig, weil er sich zum Schutz von Menschenrechten gern selektiv einmischt, vorrangig orientiert an eigenen wirtschaftlichen oder strategischen Interessen.

Die Entwicklung auch in den beiden größten Wirtschaftsblöcken (West-)Europa und Nordamerika, in denen allerorten die Rede von der Globalisierung ist, ist schwer einzuschätzen. Für die meisten BewohnerInnen dieser Regionen ist der Begriff der Globalisierung meist negativ besetzt: als Ursache für den Abbau von Arbeitsplätzen und der Auslandsverlagerung von Investitionen. Globalisierung wird von vielen Modernisierungsverlierern im Westen mit Forderungen nach mehr Flexibilität und immer neuen Einschnitten ins soziale Netz verbunden – und die Politik hat auf diese Ängste bislang keine Antwort finden können.

Die Behauptung, alle diese Maßnahmen seien unvermeidlich, weil irgendwann in diesem ersten Jahrzehnt nach Ende der Ost-West-Konfrontation ein wirtschaftlicher und technologischer Quantensprung stattgefunden habe, ist zwar weit verbreitet, bislang aber empirisch keineswegs belegt. Außerdem: Entscheidend ist die Wahrnehmung.

Ähnliches gilt für die These, in Folge der Globalisierung gebe es immer weniger Spielraum für Politik im nationalstaatlichen Rahmen. Doch gerade die Erfahrung der Menschen könnte – zumal in Verbindung mit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und verschärften Wirtschaftskrisen – auch in der EU zu erheblichen Renationalisierungsschüben führen.

Hierfür gibt es bereits zahlreiche Anzeichen. In den USA ist der Streit zwischen „Unilateralisten“ mit ihrem Modell von nationaler Souveränität und den „Multilateralisten“, die die Verfolgung der nationalen Interessen im Kontext von UNO und anderen zwischenstaatlichen Institutionen betreiben wollen, voll entbrannt.

Die anhaltende Verweigerung von Beitragszahlungen an die UNO sowie Washingtons jüngste Entscheidung gegen einen Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof sind zwar Punktsiege für die Unilateralisten – ebenso wie der Verzicht auf die Festnahme der beiden bosnisch-serbischen Hauptkriegsverbrecher Radovan Karadzic und Ratko Mladic. Doch entschieden ist die Auseinandersetzung zwischen Unilateralisten und Multilateralisten keineswegs.