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Indientrip zum Ortstarif

Via Internet gerät eine Reise nach Agra realistischer als im Luxuszug mit ausgesuchtem Besichtigungsprogramm. Vorteil: Man muß keine Mitreisenden kennenlernen. Das Tadsch Mahal scheint auch vor Ort so virtuell, daß man nicht hinzufahren braucht  ■ Von Niklaus Habluetzel

Jeden Mittwoch um 19.30 Uhr Ortszeit fährt in den Monaten Oktober bis April am Bahnhof von Delhi-Cantonement ein Zug ab, der aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Jeder seiner 14 Waggons trägt den Namen eines indischen Fürsten. Die Türschlösser glänzen golden. Nur wenige Reisende steigen ein. Er ist eine touristische Attraktion, „ein Palast auf Rädern“, wie die Reiseveranstalter nicht nur im gedruckten Prospekt sagen, sondern ebenso im Internet auf der Website unter der Adresse www.destination-asien.de/ palace/index.htp. „Majestätisch setzt er sich in Bewegung“, heißt es dort.

Es ist ein moderner Zug, seine Wagen sind klimatisiert, nur ihre Innenausstattung ist britisch-kolonial. Sie enthalten jeweils vier Abteile mit zwei Betten, einer Toilette und einer Dusche mit warmem und kaltem Wasser. Mahagoni, Elfenbein und Goldgelb herrschen vor, zumindest was die Farbtöne betrifft, ein Kammerdiener gehört ebenfalls dazu – wenn auch nicht für jedes Abteil, so doch wenigstens für jeden Waggon. Zuwenig zwar für die Maharadschas, von denen der Veranstalter in seiner Werbung spricht, ein Luxus für gehobene Angestellte aber schon. Acht Tage lang rollen sie kreuz und quer durch den Bundesstaat Radschasthan und wieder zurück nach Agra zum Tadsch Mahal. Zwischen 3.359 und 5.995 Mark pro Person kostet sie dieser Ausflug.

Im Internet kostet er gar nichts, von den Telefongebühren abgesehen, allerdings bewegt sich der Palast dann nicht auf Rädern fort, sondern mit Hilfe von Querverweisen von einem digitalen Dokument zum anderen. Für jede Station und jeden Tag haben die Reiseveranstalter eine Seite reserviert. Sie kann mit einem Mausklick geöffnet werden und enthält Bilder und Beschreibungen der Landschaft und der historischen Sehenswürdigkeiten. Sie sind das Drehbuch einer Traumreise, und der Zug selbst ist ein Prototyp dieses neuen, digitalisierten Tourismus.

„Seine gemächliche Reisegeschwindigkeit gewährt Ihnen den vollen Genuß der wechselnden Landschaftsbilder“, heißt es auf der Website. So reisen die Flaneure der Informationsgesellschaft am liebsten. Sie lassen sich Zeit, und sie haben auch sehr viel mehr Zeit, als etwa Paul Virilio meint, der davon überzeugt ist, daß wir uns in modernen Gesellschaften immer schneller bewegen müssen. Er hat nur recht, wenn er an die Geschäftsleute denkt, an Börsendaten oder auch an Flugzeuge wie die Concorde oder an Eisenbahnzüge wie den TGV und den ICE. Das Internet jedoch ist ein Bummelzug. Gerade die Geschäftsleute klagen darüber, daß auch sie geduldig vor dem Computerbildschirm sitzen und warten müssen, bis ein Bild aufgebaut oder ein Text geladen ist.

Nicht die Geschwindigkeit, sondern zwei ganz andere Metaphern haben sich deswegen eingebürgert, wenn vom Internet die Rede ist: die Metapher des Cyberspace und die Metapher des Surfens. Der Ritt auf den Wellen, eine etwas unernste Sportart, paßt viel besser zu dem virtuellen Raum, der entsteht, wenn ein paar Millionen Computer miteinander verbunden sind. Surfen ist kein Kampf um Rekorde, sondern eine Art Reisen, das auf der Stelle tritt. Allein von Wind und Wellen getrieben, lassen sich Ziele nur ungenau ansteuern und bloß vorübergehend erreichen. Surfer kommen nie an, es sei denn am eigenen Strand.

Nun ist der Cyberspace zwar nur durch die Zahl seiner Computerknoten begrenzt, daher größer als ein Sandstreifen am Wasser. Aber auch er kennt keine festen Ankunftsziele. Jeder Surftrip beginnt und endet am eigenen Computer. Unterwegs jedoch kann er sehr wohl eine Reise werden in eben jenem Sinne des Wortes, in dem noch Goethe nach Italien reiste. Sein Ziel war das Land, in dem die Zitronen blühen, wie er später ein bißchen säuerlich dichten wird. Als er sie antrat, war seine Reise eine Bewußtseinserweiterung. Sie hat ihn nicht nur nach Rom, sondern zuerst zu einer idealen Erhöhung der eigenen Person geführt: „Auch ich nach Arkadien“. Sie war ein Surftrip.

Kein Arkadien diesmal, sondern Jaipur. „Die rosarote Stadt gehört sicherlich zu den schönsten Städten Indiens“, belehrt die Website des zweiten Reisetages. „Nach dem Frühstück“ besichtige ich den „Stadtpalast mit einer eindrucksvollen Sammlung von Möbeln, Schmuck, Gewändern und Waffen aus der Glanzzeit der Rajputenherrscher“. Dann „verblüfft mich noch heute durch die Präzision seiner Anlagen“ das Jantar Mantar, „ein Sternenobservatorium aus dem 18. Jahrhundert“. Kaum habe ich mich davon erholt, kommt „das Schmuckstück Jaipurs“ vorbei, „der Palast der Winde, Hawa Mahal, ein verspielter, fünfstöckiger Phantasiebau“. Ich speise im Palast des Maharadschas und reite nachmittags auf einem Elefanten durch die Festung Amber, „12 Kilometer entfernt“.

Kaum vorstellbar, das alles in wenigen Stunden durchstehen zu müssen. Ich beginne diesen Zug zu hassen. Kein Maharadscha hätte sich das jemals gefallen lassen. Nichts ist echt daran, alles ist nur die Simulation einer touristisch verklärten Vergangenheit. Aber im Computernetz wird sie ein zweites Mal gespiegelt. Das macht sie erträglicher. Dieser Zug ist ein Geschäft mit Kunden, die gerne betrogen werden wollen. Er fährt sie in ein imaginäres Indien, auf seiner eigenen Website wird er jetzt zur Strafe selber irreal. Schon am ersten Abend sollte ich meine Mitreisenden kennenlernen, drohte mir der Reiseveranstalter in seinem Online-Text. Nur das nicht. Ich stelle mir einen Buchhalter, einen Abteilungsleiter mit Gattin, eine Chefsekretärin und Hercule Poirot vor, der bitte den Massenmord aufklären soll, den ich begehe. Weg mit ihnen. Ich reise alleine. Die Nacht bricht herein, die Dampflock schnaubt durch Radschasthan, das Reich der Wüstenkönige. Ein stolzes Geschlecht, lese ich, dessen Frauen sich lieber selber verbrannten, als sich den mogulischen Eroberern hinzugeben. Ich klicke auf die Übersichtskarte des Bundesstaates und dann auf einen Reisebericht, den mir die Webmaster zum Einschlafen hingelegt haben. Erstaunlich, daß der Mann alles ganz genau so gesehen hat, wie es im Prospekt beschrieben ist. „Schrecklicher Verdacht“, notiere ich im Tagebuch, „niemand reist mehr wirklich.“

Unsinn, das erst ist Tourismus in Vollendung. „Am frühen Morgen“ des dritten Tages erreiche ich Chittaurgarh, „berühmt durch sein imposantes Wüstenfort“, das ich „nach dem Frühstück besichtigen werde“: „Die Stadtgeschichte ist geprägt durch die Kämpfe zwischen Rajputenfürsten und den Mogul-Herrschern.“ Danach soll es mit dem Bus (warum das?) nach Udaipur gehen, der „Stadt der aufgehenden Sonne, dem Venedig des Ostens“ und insgesamt einem der „romantischsten Flecken Erde in ganz Indien“. Wieder ein Frühstück, dann ein Mittagessen im Palast des Maharadschas von Udai- Sing, eine Bootsfahrt und dann die Sahelion-Ki-Bari Gärten, in denen Fritz Lang seinen „Tiger von Eschnapur“ gedreht hat.

Es war nicht sein bester Film, und wieder frage ich mich, in welch barbarischen Zeiten Reisende durch einen solchen Wust von Geschichte gejagt werden, die sie niemals verstehen können, so müde und überfressen, wie sie sind. Das Internet ist eine Oase, ich klicke den ganzen Palast auf Rädern weg und beginne in aller Ruhe Indien zu suchen.

Die Reiseleitung selbst hat einige brauchbare Links zusammengestellt, noch reichhaltiger erweist sich die Adresse www.123india. com, eine Übersichtsseite für Online-Informationen aus Indien aller Art. Der Zug kann warten, das Surfen im freien Raum beginnt, das eben, was die digitalen Touristen den analogen voraus haben, die auf wunden Füßen und durch Baudenkmäler und Nationalparks laufen. Ich lese zuerst über „historische Aspekte des indischen Handwerks“. Ich mache es mir bequem. „Auch wenn in Indien lange Zeit die höfische Kultur der Mogulen vorherrschte, unterhielt der Subkontinent doch stets rege Beziehungen zur Außenwelt...“

Surfer probieren aus, wie weit sie eine Welle trägt. Diese hier hält eine ganze Weile vor, ich lese über Textilien, über Juweliere, über Eisen- und Goldschmiede. Dann erst wird mir bewußt, daß ich mitten in eine ganz andere Reise geraten bin, nämlich in das Projekt der „South Asian History“. Das ist kein Buch für die Bibliothek. Es ist ein Buch der neuen Zeit. Es existiert nur im Internet. Deshalb kommt es nur sehr langsam voran, erst vier Kapitel sind fertig geworden, außer dem Handwerk noch die Kolonialzeit, die ostindischen Handelsgesellschaften und der Aufstand von 1857.

Fast nichts weiß ich selbst von diesen wenigen Teilen einer Riesengeschichte. Ich notiere die Adresse: members.tripod.com/INDIA_RESOURCE. Das nun ist keine Strandwelle mehr, das ist ein Sturzbach. Außer der South Asian History bietet sich die „South Asian Voice“ zum kritischen Studium der Gegenwart an, auch der touristischen, dazu weitere Übersichtsseiten mit vielen Hunderten von neuen Adressen. Ein Kontinent zeichnet sich ab, bewohnt von Gelehrten, von Gläubigen, von Künstlern, Intellektuellen, Politikern und Geschäftsleuten. Sie beschreiben ein Indien, daß mir schwindlig wird.

Am vierten Tag erreiche ich nach einem „zeitigen Frühstück“ Ranthambor, ein Eisenbahnknotenpunkt mit Wildpark, am fünften Jaisalmar an der pakistanischen Grenze, am sechsten Jodhpur mit künstlichen Seen in der Wüste. Angeklickt, angeschaut, abgehakt, wie jeder andere Tourist habe ich gelernt, das offizielle Reiseprogramm zu rationalisieren. Plötzlich ist viel Zeit übrig für die anderen Seiten des digitalen Indien. Ein Schock ist die Musik. Eine amerikanischer Universitätsserver enthält eine Sammlung klassischer Ragas. Sie sind in Reihen von Zahlen und Buchstaben notiert, die unmittelbar in einen Computercode übersetzbar scheinen. Kann es sein, daß meine moderne Reisemaschine so tief in einer großen Tradition verwurzelt ist? Mystische Zahlen hier wie dort, der Luxuszug beginnt sich aufzulösen. Sein Reiseweg ist nur ein vorläufiges Gerüst für weitere Reisen, die an jedem seiner Haltepunkte beginnen. Die Fülle der Quellen und Informationen kann auch anders geordnet werden, vielleicht im Sinne der Ragas, vielleicht als Tanz des Shiva, über den eine andere amerikanischen Universität gerade eine Sonderausstellung organisiert.

Endlich, am späten Abend des siebten Tages, erreicht der Zug Agra. Das übliche Bild des Tadsch Mahal zeigt ein Gebäude von solcher Schönheit, daß die Wirklichkeit kaum noch vermißt werden kann, die ihm hier fehlt, weil es nur ein Bild im Computer ist. Die Fahrt im Palast auf Rädern führt ja sogar die Reisenden, die in der Wirklichkeit dafür bezahlen, nicht in die Wirklichkeit Indiens, die weit eher im digitalen Netz erkennbar wird. Warum also muß ausgerechnet das Tadsch Mahal wirklicher sein als sein Abbild? Man hat ihn eine „Elegie“ genannt, und tatsächlich scheint er über dem Wasser zu schweben. Aus dem Internet betrachtet, ist er ein rein virtuelles Gebäude, und vielleicht haben die indischen Mathematiker und Baumeister ihn von Anfang an als virtuelles Gebäude entworfen, als steinerne Illusion. Wenn das wahr ist, hat die digitale Reise nach Agra ihr Ziel besser erreicht als jede andere.

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