■ Schöner Leben
: Angepaßte Bräuche

Stellen Sie sich vor: Sie sind drei Jahre und sitzen auf den Stufen vor der Kathedrale von Maracaibo, Venezuela. Da kommen fröhlich lärmende Gestalten mit einem Bollerwagen daher, Musik dudelt, immer wieder schütten sie quitschbunte Trünke in sich hinein. Am Portal des Gottesthauses macht sich eine Frau in landesüblicher Tracht mit Schürze, Gummistiefeln und Kopftuch mit einem Lappen zu schaffen. Und schließlich stürmt diese hochgewachsene Person auf Sie, kleiner Besucher, zu und möchte von Ihnen geküßt werden. Lange noch werden Sie Ihren Freunden mit einer Mischung aus Schauder und Stolz von den brachialen Bräuchen dieser Stadt erzählen...

In Bremen sorgte die umgekehrte Szene jüngst für Debatten unter den Anhängern der ortsüblichen Folklore, die sich „Domklinkenputzen“ nennt und als dem Weib vorbehaltenes Gegenstück zum „Domtreppenfegen“ der Männer im Städtchen gepflegt wird. Denn die Erinnerung über den genauen Ablauf des Ritus verblaßt, weil in normalen Familien und Freundeskreisen eben nicht so häufig in ledigem Zustand die 30 erreicht werden und obendrein die Bereitschaft nicht immer vorhanden ist, den Touristen dieses Schauspiel darzubieten.

So war denn die Frage bei jener Gesellschaft am vergangenen Mittwoch wieder präsent: Zählt das denn? Darf sie die Klinke sausen lassen und sich ihren Freiküsser selber aussuchen? Und darf das ein kleiner Venezolaner sein?

Der Rat tagte und beschloß: Gemogelt, eine neue Ladung Schuhwichse klebte bald an der Domklinke, wo die geplagte Ledige den Lappen kraftvoll führte. Also übernahmen die Freundinnen die Initiative, während die örtlichen Penner und andere Gäste fröhlich Schluck um Schluck der farbigen Flüssigkeit zu sich nahmen.

Schließlich überredeten sie einen jugendlichen Touristen, die Blonde zu erlösen. Für den Teenager waren die ausgetauschten Wangen-Küßchen nicht so schlimm, immerhin entspricht das in etwa seiner französischen Landessitte.

Eine Kleinigkeit haben die emanzipierten Töchter unserer Zeit freilich übersehen: Sie hätten gar nicht das Kind oder den Jugendlichen behelligen müssen. Schließlich hat ein jeder unverheiratete Mann das Recht, die Schöne freizuküssen, schließlich ist das Ritual ja auch eine Heiratsbörse. Bei den treppenfegenden Männern zählen feilich nur holde Jungfrauen. Insofern sind die Bräuche der BremerInnen zwar brachial, aber das aufgeklärte Volk wandelt die Folklore in seinem Sinne. Der kleine Venezolaner ist Zeuge eines bedeutsamen Kulturwandels geworden.

Joachim Fahrun