Ortstermin auf Bahnsteig vier

Auf dem Bahnhof von Bad Kleinen beschäftigte sich zum ersten Mal ein Gericht mit den Todesumständen des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams. Seine früheren Genossen schauten zu  ■ Von Patrik Schwarz

Schaut so die jüngste deutsche Geschichte aus? Weitgehend sauber, bis auf ein paar kleine Spritzer von Fliegendreck? Wenn man am Bahnhof von Bad Kleinen steht, ist die Frage gar nicht so abwegig. Dort hängt die bundesdeutsche Geschichte – oder doch zumindest ein Stück davon – vom Dach über dem Bahnsteig 4 herunter: Ungezählte Male schon wurde das Schild mit dem Schriftzug „Bad Kleinen“ gefilmt und fotografiert. Es ist weiß und wirkt wie blankpoliert. Nur wenn man genauer hinschaut, sieht man den Fliegenschiß.

Seine Prominenz verdankt der Schriftzug „Bad Kleinen“ einem Sonntagnachmittag vor fünf Jahren. Nach einer minutiös geplanten, aber desaströs verlaufenen Polizeiaktion lagen an jenem Nachmittag zwei Menschen auf dem Bahnsteig im Sterben, der Grenzschutzbeamte Michael Newrzella und der RAF-Mann Wolfgang Grams. Dabei haben sich am 27. Juni 1993 unter dem Bahnhofsschild Ungereimtheiten in einem Ausmaß ereignet, die nicht nur zum Rücktritt des Bundesinnenministers führten und zur Ablösung des obersten Terroristenjägers der Republik, Generalbundesanwalt von Stahl. Zurückgeblieben ist auch der Verdacht, ein GSG-9-Beamter könnte den bereits schwer verletzten Grams mit einem Kopfschuß aus dessen eigener Waffe getötet haben.

Fünf Jahre nach dem verhängnisvollen Sonntag heftet ein Gerichtsdiener am Treppenaufgang zu Bahnsteig 4 ein Pappschild an die Wand: „Öffentliche Sitzung“. Laienhaft gesprochen wird damit der Bahnsteig zum Gerichtssaal, der Ortstermin in der Klage der „Eheleute Ruth und Werner Grams gegen die Bundesrepublik Deutschland“ kann beginnen. Bis zum Bundesverfassungsgericht waren die Eltern von Grams gegangen, um die Staatsanwaltschaft zu einer Mordanklage gegen zwei GSG-9-Beamte zu bewegen. Als sie auch in Karlsruhe unterlagen, strengten sie einen zivilrechtlichen Prozeß an, in dem sie vom Staat als Auftraggeber der GSG 9 die Erstattung der Beerdigungskosten für ihren Sohn verlangen.

Es ist eine kleine, bemerkenswerte Gesellschaft, die sich hier auf dem Bahnsteig eingefunden hat, um eine Episode allerjüngster deutscher Vergangenheit in Augenschein zu nehmen, die für mehrere der Anwesenden untrennbar mit der eigenen Biographie verschränkt ist. Da ist eine Frau mit bunten Riemchenschuhen und einem Strandrucksack. Sie steht mit dem Rücken zu dem Kiosk, der einmal ihr Arbeitsplatz war. Seit wann sie dort nicht mehr tätig ist? „Seit damals.“ Seit Johanna Baron durch ihr Kioskfenster mehrere Gestalten auf den Bahnsteig stürmen sah, ist sie zur wichtigsten Zeugin für einen möglichen Mord an Wolfgang Grams geworden. Sie bleibt bei ihrer Aussage: Es seien noch Schüsse gefallen, als Grams bereits auf den Gleisen gelegen habe und neben ihm zwei GSG-9- Männer standen. „Dieser Schuß war ganz, ganz leise“, sagt sie über den letzten Knall. Für den Anwalt der Familie Grams, Andreas Groß, paßt die Schilderung ins Bild: „Ein aufgesetzter Kopfschuß hat enorme Schalldämpfwirkung.“ Ein zweiter Zeuge, der sich allerdings erst mit knapp zweijähriger Verspätung meldete, will ebenfalls Schüsse aus nächster Nähe auf den liegenden Grams beobachtet haben. Anwalt Groß glaubt, der Staatsanwalt habe während der Ermittlungen bewußt Gerüchte über die mangelnde Verläßlichkeit der beiden Zeugen in Umlauf gesetzt: „Jeder, der was gesehen hat, wird demontiert.“

Während das Gericht prüft, ob Zeugen auch sehen konnten, was sie angaben, 1993 gesehen zu haben, hören zwei Männer besonders aufmerksam zu. Sie stehen meist mit verschränkten Armen da, selten in der ersten Reihe, aber doch so nah am Geschehen, daß sie alles gut verstehen. Anders als die anwesenden Journalisten schreiben sie nicht mit. Ein Ortstermin ist öffentlich, und also sind auch Karl- Heinz Dellwo und Knut Folkerts gekommen. Sie sind zum ersten Mal in Bad Kleinen, sagen, sie wollten sich einfach mal einen unmittelbaren Eindruck verschaffen. Zweimal lebenslänglich erhielten die früheren RAF-Mitglieder in den 70er Jahren.

Von den Ereignissen in Bad Kleinen erfuhren beide im Gefängnis. „Das war ein Sonntag“, erinnert sich Dellwo. „Wir sind alle in Celle gesessen und haben nur noch die Nachrichten gehört. Ich hatte damals ein Kassettenradio. Ich habe alles aufgenommen und später abgetippt. 80 Schreibmaschinenseiten in vier Tagen.“ 1995 wurde Dellwo entlassen, nach mehr als 20 Jahren Haft. „Für mich ist klar, daß Wolfgang Grams ermordet wurde“, sagt er, doch es klingt eher lakonisch als kämpferisch. Wie er überhaupt entspannt wirkt, häufig lächelt. Auch politisch sagt er Überraschendes: „Ich hatte den Eindruck, daß dieses Gericht den Vorwurf wirklich aufklären will und nicht eine staatstragende Entscheidung treffen.“ Und nach einem kurzen Zöger: „Die Verhandlung, ich fand sie fair.“