Keine Mission und kein Papier

Wie beim „Spiegel“ in Hamburg jeden Morgen vier Seiten zusammengeschustert werden, die schon am Nachmittag als Deutschlands angeblich „schnellste Zeitung“ verkauft werden  ■ Von René Martens

Na, wenn das nicht die Revolution des Journalismus ist: Um sieben Uhr, also eher als andernorts die Redaktions-Putzfrauen, muß die Frühschicht von Der Tag in einem Glaskasten in der Hamburger Ost-West-Straße antanzen.

Nachdem sie ihr Großraumbüro betreten haben, werfen die Redakteure noch einen kurzen Blick auf die beschauliche Speicherstadt, weil es das letzte ist, was sie bis zum Ende ihres mittagspausenlosen Arbeitstages von der nichtmedialen Welt mitbekommen. Dann legen sie, zu nachtschlafender Zeit, los mit ihrer Nachmittagszeitung: Sie schalten n-tv ein, wählen ein paar Videotextseiten an und rufen im Internet jene Websites auf, die in den feuchten Träumen aller News-Junkies die Hauptrolle spielen.

Wer in Berlin oder Hamburg lebt und täglich noch 'ne Mark übrig hat, kann ab der ersten Septemberwoche die Arbeit der Frühaufsteher verfolgen. Dann gibt es Der Tag an Bahnhöfen, Flughäfen sowie vereinzelt an Shell-Tankstellen zu kaufen. Während der Winterolympiade in Nagano war das Blatt in Hamburg schon kurzzeitg im Handverkauf erhältlich.

Der Tag, acht Seiten dick, ist eine Weiterentwicklung von ICE press, einer vierseitigen News-Zeitung, die die Deutsche Bahn seit einem Jahr in den Ersten Klassen ihrer „Hannah Arendts“ und „Paula Modersohn-Beckers“ verteilt. Hinter Der Tag steht – mittelbar – der Verlag des Spiegel.

Eine neue Tageszeitung? Gute Idee eigentlich, denn Neuentwicklungen in diesem Bereich sind selten. Dabei machen sich die Medienunternehmen seit geraumer Zeit Gedanken über neue Wege der News-Streuung, auch übers Papier, nachdem viele klassische Tageszeitungen aus der Not ihrer Langsamkeit eine Tugend gemacht haben und mit mehr Hintergrundberichten fast tägliche Wochenzeitungen geworden sind. Da sind Projekte wie das Stockholmer Metro, das neugierig beäugt wird: eine kostenlos verteilte, billig gemachte News-Zeitung für U-Bahn-Fahrer, finanziert durch Anzeigen. Für solche und andere Optionen wollen die Verlage gerüstet sein, auch der des Spiegel. „Die Schlagzeile ,Spiegel macht eine Tageszeitung‘, weckt aber falsche Assoziationen“, sagt Matthias Schmolz, der Sprecher der Verlagsgruppe, denn: „Niemand wird wegen uns aufhören, seine angestammte Tageszeitung zu lesen.“

Das einzige Pfund, mit dem das neue Blatt wuchern kann, ist seine Schnelligkeit: Um 15 Uhr machen die Redakteure ihren letzten Handschlag, aber eine Stunde später kommt „Deutschlands schnellste Tageszeitung“ bereits auf den Markt. Das ist mögich, weil, wie bei ICE press erprobt, die Daten aus der Hamburger Ost-West- Straße über die Telefonleitung übermittelt werden an einen Computer am Vertriebsstandort. Dort steht ein Laserdrucker, der die Zeitung sogleich auswirft. Der Tag lebt ohnehin in einer volldigitalisierten Welt; aus Papier bestehen in der Redaktion nur die klassischen Tageszeitungen. Wahrscheinlich sehen die Schreibtische der Mitarbeiter deshalb so unverschämt ordentlich aus.

Von der Geschwindigkeit profitiert Der Tag vor allem, wenn die Meldung des Tages schon am Vormittag kommt – zum Beispiel vergangene Woche bei den Bombenanschlägen auf die US-Botschaften. „Die Zeitungen, die ein paar Stunden später erschienen sind, hatten auch keinen besseren Wissensstand als wir“, sagt Chefredakteur Christian Krug.

Mit elf Redakteuren und sechs weiteren Kräften macht Krug, zuvor beim Stern und „Spiegel TV“ tätig, unter anderem zwei Sportseiten und eine Seite „Entertainment“ (statt Kultur) mit aktuellen Kritiken. Gleichzeitig wird ICE press erstellt. Die acht zumeist aus Agenturmeldungen zusammengeschusterten Seiten quellen aus den Druckern in einem nachrichtlich drögen Stil, der nichts gemein hat mit dem der großen Montags-Illustrierten, die um die Ecke produziert wird. „Wir haben keine Mission zu erfüllen – außer die, Nachrichten so schnell wie möglich zu drucken“, sagt Krug: „Der Star ist die Nachricht.“ Ist Der Tag denn mehr als gedruckter Videotext? „Ich würde eher sagen: gedruckter Deutschlandfunk“, sagt der Chefredakteur, „da gefällt mir der Umgang mit den Nachrichten besser.“

Die Zielgruppe seiner Zeitung sind Pendler, die sich noch schnell die neuesten Nachrichten kaufen, bevor sie in den Zug steigen. Geschäftsmenschen, die einen Termin in Frankfurt hatten und noch am Nachmittag zurück nach Hamburg fahren. „Vielleicht sagen uns diese Leser irgendwann, daß ihnen die Meinung fehlt. Aber aus den bisherigen Marktstudien ist das nicht hervorgegangen“, sagt Krug. Aus den Studien bezog der Verlag, wie Spiegel-Mann Schmoldt sagt, zumindest soviel Vertrauen in das Projekt, daß es nun weiter getestet wird. Finanzierbar ist Der Tag nur, weil die Zeitung auf die Infrastruktur des Spiegel zurückgreifen kann, etwa das Fotoarchiv. Ins Geld gehen vor allem Druck- und Papierkosten. Auf der Ertragsseite hingegen dürfte es selbst dann noch mau aussehen, wenn wie angestrebt 5.000 Verkaufte erreicht werden – bezahlte Anzeigen finden sich vorerst kaum auf den Seiten.

Daher gibt es im „Spiegel“-Verlag hörbares Gegrummel über die Projekte von Verlagsmanager Werner Klatten. Da die Mitarbeiter am Verlag beteiligt sind, meckern Spiegel-Leute, daß der Verlag Geld in teilweise defizitäre Projekte (wie Der Tag oder das Monatsheft Spiegel special) steckt, anstatt die dicken Spiegel-Erlöse an sie auszuschütten. Ende Juli wurde das Magazin Econy von der Spiegel-Tochter Manager Magazin nach zwei Ausgaben wieder abgestoßen. Verlagsmann Schmolz relativiert: „Die einen argumentieren für einen Ausbau des Bestehenden, die anderen wollen in neue Standbeine investieren.“

Gerade die Geschichte von Econy legt die Vermutung nahe, daß Der Tag unter Druck stehen wird. Christian Krug sieht das anders: „Wir befinden uns eindeutig im Stadium des Probierens. Zielvorgaben gibt es nicht.“ Abgerechnet wird auf alle Fälle im Dezember. Dann wollen die Verlagsstrategen entscheiden, ob und wie Der Tag auch langfristig eine Zukunft hat. Als Tankstellenblatt in Großstädten, in noch größerem Rahmen – oder eben gar nicht.