Forscher warnen vor Chemieflut

Oft stellt sich Giftigkeit erst spät heraus. Auf Umweltkonferenz „Dioxin '98“ berichten Forscher von altem Flammschutzmittel, das Hirnschäden verursacht  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Die Botschaft aus Stockholm von den 700 ForscherInnen: Auch wenn aktueller Austritt und Konzentration in der Natur für einige der bekanntesten organischen Umweltgifte in den letzten Jahren deutlich gesunken sind, ist die von ihnen ausgehende Gefahr keineswegs vorbei. Im Gegenteil: neue Gefahr drohe durch neue massenhaft angewandte Chemikalien.

Aus 30 Ländern waren die Experten zur „Dioxin '98“ angereist, um dort bis zum Freitag die neuesten Erkenntnisse über Ökogifte auszutauschen. Niklas Johansson, Experte für organische Umweltgifte bei der staatlichen schwedischen Naturschutzbehörde: „Nicht für Optimismus besteht Anlaß, sondern für Pessimismus. Wir wissen eigentlich immer noch fast nichts gerade über diese große Gruppe chemischer Verbindungen. Und ständig werden unkontrolliert neue Substanzen freigesetzt.“

Gleich zu Beginn schreckten die Ergebnisse der ForscherInnen der Universität Uppsala auf. Sie untersuchten, inwieweit die Flammschutzmittel Polybromierte Diphenylether (PBDE) den Nachwuchs von Tieren beeinflussen können. Schon bei geringer Vergiftungsdosis der Versuchsratten wurde der Nachwuchs mit lebenslangen Hirnschäden geboren. Ihr Gedächtnis und ihr Lernvermögen lagen deutlich unter PBDE-freien Vergleichstieren, und sie zeigten hyperaktives Verhalten.

Resultate, die die ForscherInnen ähnliche Auswirkungen auch bei Menschen fürchten lassen. Der menschliche Körper nimmt diese Chemikalie durch Nahrung und Atemluft auf und lagert sie offenbar langfristig im Körpergewebe ab. „Wir haben bislang noch keine ausreichenden Beweise dafür, daß die PBDE bei Menschen in ähnlicher Weise Schädigungen hervorrufen“, sagt der an der Studie beteiligte Toxikologe Per Eriksson, „aber es gibt auch keinen Grund, der dagegen spricht. Nach unseren Untersuchungen können wir nicht mehr ausschließen, daß die PBDE in der in der Umwelt vorhandenen Konzentration schon jetzt die Entwicklung von Nerven- und Gehirnzellen menschlicher Fötusse negativ beeinflussen.“ Was die potentielle PBDE-Gefahr noch brisanter mache, sei die Tatsache, daß das Umweltgift mit anderen Chemikalien zusammenwirken und seine Wirkung noch verstärken könnte.

Verschiedene ForscherInnen kritisierten in Stockholm, daß trotz längeren Verdachts von PBDE-Schädigungen bislang kaum etwas geschehen sei, diese Chemikalie zu ersetzen. Von den chemischen und biologischen Eigenschaften her gebe es deutliche Parallelen zwischen DDT, PCB und PBDE. Sie ähnelten in ihrer Zusammensetzung den natürlichen Hormonen, welche eine entscheidende Rolle in der Entwicklung menschlicher und tierischer Körper spielte. Eine schädliche Einwirkung auf die Entwicklung des Nerven- und Fortpflanzungssystems sowie der Immunabwehr bereits durch geringe Dosen liege daher schon theoretisch nahe, ohne daß Industrie oder PolitikerInnen bislang aber das erforderliche Problembewußtsein entwickelt hätten.