Der Ritt gegen die Blechmühlen

Gewürfelte Kunst: Der unermüdliche Experimentalfilmer Peter Sempel  ■ Von Birgit
Glombitza

Es gibt keinen Zufall. Am besten auch keine Absichten. Aber Kaffeekannen. Und für jemanden, der mit den Füßen zuerst im Alto-naer Krankenhaus auf die Welt kam, sechs Monate später nach Australien auswanderte, seine Eltern „mitnahm“, heute zwischen Sao Paulo, Tel Aviv, New York und Hamburg-Hamm pendelt und mit seinen Filmen auszieht, „das Unmögliche zu versuchen, ohne darüber nachzudenken“, ist alles potentieller Filmstoff. Solange die eine Kaffeekanne dabei und mit Sempels „Helden“ im Bild ist.

Darüber denkt man nicht nach. Genausowenig wie über seine Nationalität. Denn daß Sempel auch im australischen Busch, mit eigenem Hauskänguruh und ohne Strom, „irgendwie deutsch blieb“, führten dem inzwischen 10jährigen seine Mitschüler unmißverständlich vor Augen und begrüßten ihn: „Du dreckiges, kleines Nazi-Schwein.“ Peter riß dem Schandmaul darauf das halbe Ohr ab und mußte zum Direktor. Einen Tag später brannte die Schule ab. Ebenfalls zur Hälfte.

1969 kehrte Sempel nach Hamburg zurück. Mit 56 verschiedenen Jobs, vom Bauarbeiter bis zum Fitneßtrainer, hielt er sich über Wasser und erledigte zwischendurch sein Amerikanistik- und Sportstudium. Mit seinen Werken tingelte er in den 80ern durch die Kneipen und Kinos von Sao Paulo bis zum Hamburger Kiez. Immerhin 100.000 Zuschauer sahen Sempels Dandy. Und zwar weltweit. „Davon kann Hark Bohm nur träumen“, schmunzelt Peter Sempel, das unermüdliche Faktotum unter den Hamburger Filmemachern.

In Jonas In The Desert sagt der Filmarchivar Jonas Mecka einmal, daß Filmen so beiläufig und gleichzeitig so notwendig geschehen solle wie Atmen. Und Peter Sempels Atmen legt seinen Weg vom Mund zum Ohr des anderen etwas brüchig und, anders als seine Filme, recht wortreich zurück. Das Werk des 44jährigen gleicht einer geräumigen Tantenvitrine. Voller liebgewordener Erinnerungsutensilien und Kleinode seiner „Helden“. Da ist zum Beispiel diese Kaffeekanne. „Was geschieht, geschieht“, ist ihre Botschaft. Der Kaffeesatz auch aus Filmen wie Dandy. Voltaires Candide, in dem ein tragischer Held von Untergang zu Untergang eilt, um Leibniz' „beste aller Welten“ mitsamt ihren Zufällen zu sabotieren, stand dabei Pate. Sempels Kanne ist nicht nur ein Requisit, sie ist Surrealistin und als solche strikt gegen das Absichtsvolle. Ein treueres Motiv noch als Sempels Prominenten-Quartett, bei dem von Blixa Bargeld, Nick Cave, Martin Scorsese bis zum reanimierten Andy Warhol oder „der lieben Frau Hagen“ keiner fehlen darf. Wer das wichtige Gefäß in den Händen hält, darf sprechen, spinnen oder singen. Dieter Meier von Yellow füllt sie einmal mit Ganges-Wasser, rennt wie ein Verfluchter zu Marrakeschs Stadtmauer und bewirft sie mit dem heiligen Naß. „Das ist einfach stark, keiner weiß, warum, aber das ist eine Superszene“, freut sich Sempel. Und tatsächlich sind seine „Langzeitdokus“ über die geschätzten Künstler am besten, wenn das Warum nicht als Lenorstimme einer Einstellung verpflichtet ist. Wenn Blixa Bargeld in Dandy an einer Bushaltestelle auf Godot wartet oder mit Campino am Kneipentisch im „Fluß der Zeit“ rührt und dazu Namen deutscher Kleinstädte durchdekliniert. Oder wenn die Kamera einem trabenden Schimmel im Nacken hockt und zwischen den Gaulsohren den entgegenkommenden New Yorker Verkehr einfängt. Ein wunderbarer Ritt gegen Blechmühlen. So elegant und absurd zugleich kommt ein Fabelwesen selten auf die Erde. Just Visiting This Planet heißt denn auch diese Arbeit über den Butoh-Tänzer Kazuo Ohno.

Immer wenn es eng wird, würfelt Peter Sempel zwei Sechsen – so will es die eigene Legende. Auf diese Weise lernte er einst Bargeld in der Berliner Punckneipe Risiko kennen. „Ich hatte kein Geld, wollte Wodka und überredete Bargeld, der hinter dem Tresen arbeitete, zu zocken. Wenn ich zwei Sechsen würfel', krieg' ich einen umsonst, wenn nicht, zahle ich das Doppelte.“ Okay? – Okay! Im Morgengrauen taumelt Sempel aus dem Laden, sturzbesoffen natürlich und keine Mark leichter. Der Zufall hat bei ihm Methode. Goldene Kaffeekannen-Regel dabei: „Man darf es nicht wollen, es muß einfach geschehen.“ Und so geschah es. Beim Knobeln um Nick Caves Gage oder beim widerspenstigen Bargeld, der auf die Regie-Anweisung „Würfel zwei Sechser auf Anhieb und vor laufender Kamera!“ lautstark streikte. Und Sempel ging zu ihm, würfelte zwei Sechsen. „So!“

Zur Zeit schneidet Peter Sempel an einem neuen Teil seiner „Langzeitdokus“ über Nina Hagen. „Wenn man sich so gut kennt wie wir, hat man eher die Möglichkeit, sie auch mal ganz ohne Posing zu erwischen.“ Denn die Frau post nun mal ganz gut und gerne. Im neuen Sempel-Film als angeschlampte Madonna mit einem „Ave Maria“ auf den Lippen, daß sich die Nackenhärchen aufstellen. Natürlich kann da die Kaffeekanne nicht weit sein. Da soll mal einer behaupten, das sei Zufall. Frau Hagen weiß es besser, denn Sempels Filme, „das ist Medizin fürs Volk“.

„Dandy“ läuft heute und morgen um 22.30 Uhr im 3001. Sonnabend gibt es dort ein Special mit Kurzfilmen und japanischem Flamenco.