■ Von Wespenhysterie und Wespenindifferenz
: Sauer sauer sauer sauer sauer sauer ...

Es scheint, wir sind eine Minderheit.

Unwiderstehlich locken die letzten schönen Tage des Sommers, und wie selbstverständlich findet sich, wer Zeit hat, unversehens mit vermeintlich Gleichgesinnten in den Straßencafés und Biergärten wieder. Kaum jedoch, daß wir dort behaglich in den Himmel blinzeln, müssen wir das knusprig frische Honigbrötchen hektisch von uns schleudern, das liebevoll gezapfte Bier über die Hose unseres Tischnachbarn kippen und blind um uns schlagen: WESPENALARM! (Wie hatten wir das vergessen können?) Und während wir den wirren Flug des verhaßten Insekts verfolgen, das sich alsbald von einem Tisch zum nächsten stürzt, um dort mit einer beiläufigen Handbewegung verscheucht oder gar gänzlich mißachtet zu werden, reift die Erkenntnis: Wir sind eine Minderheit.

Mißmutig werden wir nach unserem peinlichen Outing von unseren Mitmenschen beäugt. Die Laune ist hin, es hagelt wohlmeinende Kommentare: „Einfach ignorieren“, heißt es dann weltmännisch, oder: „Ist schon weg.“ – „WIE?“ und „WIE LANGE?“ fragen wir und ahnen: Hinter ihren Ratschlägen lauert nicht, wie sie vorgeben, gesunder Menschverstand, den sie unserer Hysterie entgegensetzen, sondern ein dem gesunden Menschenverstand nur äußerlich ähnlicher Zustand gleichermaßen vernunftwidriger Indifferenz. Davon zeugt allein die verbreitete Annahme, unsere latente Wespenangst sei weiter nichts als Angst vorm Gestochenwerden.

Ja, ein Wespenstich tut weh. Und wir Wespenhysteriker wissen längst, daß unsresgleichen öfter von Wespenstichen heimgesucht wird als der gemeine Wespenindifferente. Die Indifferenz aber, mit der Wespenindifferente selbst dem gänzlich schuldlos Gestochenen begegnen können, ist geradezu infam. Nicht wahr? Ein Schnitt in den Finger, ein Tritt in Hundekot – und das Mitgefühl der Umwelt wäre zweifellos ungeteilter.

Doch Stich- und Stachelphobie sind eine Sache, die Beziehung des heimischen Homo sapiens zur heimischen Paravespula ist eine andere – und letztlich ebenso irrational wie Hautfarbe, Zungenrollen, Religiosität oder sexuelle Orientierung. Für Bäckereifachverkäuferinnen mag Wespenindifferenz Teil ihrer beruflichen Qualifikation sein; bei Nicht-BäckereifachverkäuferInnen jedoch wird sie vielfach zum Ausdruck einer chauvinistischen Verständnislosigkeit gegenüber den Gefühlen und Verhaltensweisen Andersdenkender. Und das, obwohl wir Wespenhysteriker bei der freien Entfaltung unserer Persönlichkeit doch gemeinhin weder gegen verfassungsmäßige Ordnung und Sittengesetz verstoßen noch die Rechte anderer verletzen und damit alles in allem auch nicht systemgefährdender sind als andere Mitbürger. Im Gegensatz zur Wespe tun wir keiner Fliege was zuleide und gelten doch als Spielverderber gleich hinter militanten Nichtraucherinnen, Laienquerulanten, Verschwörungstheoretik- und HobbyhypochonderInnen.

Zum Glück hat das alles bald wieder ein Ende. Wenn der Pflaumenkuchen wieder aus den Auslagen verschwindet, verschwindet auch die schwarzgelbe Gefahr wieder aus dem Blickfeld. Und nichts unterscheidet uns Wespenhysteriker mehr von unseren Artgenossen. So tragen wir die Gartenmöbel in den Keller und warten aufs Christkind, färben Ostereier und tragen die Gartenmöbel aus dem Keller, derweil die gesamte Schar der Wespenköniginnen '99 schon – Gott weiß wo – still in ihren Löchern sitzt und nur darauf wartet, uns erneut zu stichmatisieren. Christoph Schultheis