Spellbound auf Speed

Kein leichtes Ding, doch sie tut's gleich dreimal und besorgt 100.000 Mark in 20 Minuten: „Lola rennt“ von Tom Tykwer  ■ Von Gudrun Holz

Lola fragt nach der Uhrzeit. Aber eigentlich ist das egal. Je mehr, je händeringender die junge Frau mit der feuerroten Haarmatte unterwegs ist, rennt, nach Geldquellen sucht, sich Zutritt verschafft, keucht, hofft oder verzweifelt ist, desto irrelevanter wird die Zeit, die ihr davonläuft. Uneinholbar sowieso, eben weg für immer.

Lola gibt es dreimal und doch nur einmal. Der Titel „Lola rennt“ ist Programm und somit deckungsgleich mit der wesentlichen Handlung des Films. Anstatt ein ganzes Leben oder gar eine ganze Epoche in Spielfilmlänge zu bannen, wird hier eine Episode von 20 Minuten in 80 Filmminuten erzählt. Dreimal und nacheinander.

Lola als Versagerin, Lola als Retterin, Lola als Glückliche. Drei Möglichkeiten, drei Versuche, drei Durchläufe. Jeder plausibel, aber nicht zum Aussuchen. Schicksal und Zufall. Zwei große Worte werden durch diesen Film bewegt und auf die Figur der rastlosen Lola projiziert. Spätestens nach dem zweiten Anlauf aber wird klar, hier interessiert sich jemand in erster Linie für ein Totalbild filmischer und handlungsbestimmender Möglichkeiten, weniger für aufwendige Backgroundstorys oder psychologische Hinterglasmalerei.

Wird die junge Frau (Franka Potente) mit dem hübschen, arabesken Bauch-Tattoo, bekleidet mit den Basics der Streetwear – pastellgrüner Hose, hellblauem Feinripphemdchen und hervorlugenden weißen BH-Trägern –, es tatsächlich schaffen, in 20 Realminuten die horrende Summe von genau 100.000 Mark aufzutreiben? Wird sie, wie es Frauenart ist, helfen können? Lolas Freund nämlich, der hemdsärmelige Hilfskriminelle mit Herz namens Manni (Moritz Bleibtreu als freundlicher Chaot) ist in einer empfindlichen Bredouille, weil er eine ominöse Plastiktüte mit Geldscheinen auf der Flucht vor den Kontrollettis in der U-Bahn liegengelassen hat. Geld muß also schnellstens her, sonst droht ihm Unheil von Ronnie (Heino Ferch als bullige Glatze), dem das Geld gehört.

Die Gleichung Lola + Bank = Lösung wäre da eine Möglichkeit, denn Vati (Herbert Knaup) ist schließlich Banker. Lola also los. Während Manni wartet und vor dem nächstbesten Bolle überlegt, was wohl summa summarum in der Kasse ist. Jedenfalls hat er schon mal eine Waffe dabei.

Franka Potente – die störenderweise vom Drehbuch dazu verdammt ist, gelegentlich gläserzerfetzend und ohrenbetäubend zu schreien – in Aktion einerseits und Moritz Bleibtreu als ihr Counterpart in der Warteschleife andererseits, das ist wie „Spellbound“ („Ich kämpfe um dich“) auf Speed. Wo Hitchcock auf unheildräuendes Halbdunkel und Ingrid Bergmans verschreckte Mimik setzt und Dalis surreale Traumsequenzen beredt sein läßt, knallt Tom Tykwer einem seine Spurtverliebtheit und die maximale Palette der omnipotenten Kamera von Frank Griebe auf die Wahrnehmungskanäle.

Ein grelles Figurentheater, bei dem interessanterweise die Handlungsinseln abseits des Hauptstrangs den Akteuren wesentlich mehr Raum für eine Vertiefung ihrer Charaktere lassen. Herbert Knaup als sensibler Banker ist ebenso knapp neben seinem sonstigen Image besetzt wie Lars Rudolph als gehemmter Schalterknecht. Nur Nina Petri spielt leider wieder eine ihrer notorischen Nebenrollen. Lola dagegen ist vor allem eines – durch Tempo präsent. Die anderen, das ist auch im Film das Publikum.

Die Umrisse der Story – Liebe, Geld und knappe Zeit – böten an sich auch Stoff für einen schlichten Speedthriller à la Hollywood oder die berüchtigte leichtgewichtige Teutonenkomödie. Aber Tom Tykwer meint es ernst. Dieser Film will vor allem neu, neu, neu sein, und damit basta. Tykwer macht Fenster auf. Nicht nur die Staffelung in drei Episoden, die alle an Punkt A beginnen, dieselben Personen involvieren, aber gänzlich anders ausgehen, suggeriert ein interaktives Moment. Auch die mehrmals eingefügten Zeichentricksequenzen ziehen nochmals das Tempo an. Kongenial zeigt das Trickfilmfigürchen Lola als das, was sie ist: eine Comic-persona. Der Film folgt ihr und taucht vom Wohnzimmer aus einen Schnitt weiter in den Fernsehbildschirm ein, wo sich ihr Marathon im Anime-Format abrollt.

Eben doch ein Experimentalfilm, der mit Methode vorgeht. Flüchtige Begegnungen mit Passanten werden, klick, klick, klick, als hyperschnell gespielte Kurzvideos vorgeführt. In Zeitraffersekunden surrt ein fremdes Leben vorbei, als hätte man den Finger auf der Fast-foreward-Taste. So wird aus der verhärmten ollen Mutti mit Kinderwagen im Schnellschnittverfahren eines Videoclips eine Millionärin. Oder in der nächsten Episode eine Sektenanhängerin, die mir ihren piefigen Religionsheftchen an der Ecke steht. Eine Vita in Varianten, immer der Frage nachgegangen, was wäre, wenn.

Dazu paßt auch der beständig hin und her springende Wechsel der Materialien. Wenn Nebenschauplätze angetippt werden, sind die auf Video gedreht. Der Mikrokosmos des Liebespaars Manni und Lola dagegen immer schön in Echtfilmmaterial. Die Kamera verzichtet auf große, bis in die Bildtiefe konstruierte Gesamtansicht, nimmt sich statt dessen zentrale Punkte zum Angelpunkt. Die Telefonzelle, Manni, die rennende Lola im Profil, ihr Gesicht in Großaufnahme. Auch die Besetzung ist analog konzipiert, so daß es echte Nebenrollen als bloße Stichwortgeber nicht gibt. Der Plot ist multilinear, neben der Verbindung Manni/Lola funktionieren die Nebenhandlungen wie Module, die bei der Begegnung mit Lola als Pathfinderin jeweils wie angeklickt reagieren. Da wäre Lolas Vater beim Tête-à-tête in der Bank mit der Geliebten, Frau Hansen (Nina Petri): Lola stört, reißt die Tür auf. Alle Zusammenhänge purzeln durcheinander. Mal gesteht Petri feinsinnig, daß sie ein Kind von einem anderen erwartet, mal demoliert Lola die Einrichtung, mal macht sie den eigenen Vater zur Geisel zwecks Bankraubs. Faites vos jeux. Skurriler dagegen die Handlungselemente um Joachim Król als Penner mit Filzhaar. Als dieser mit Manni um eine Plastiktüte voller Tausender rangelt, ist eigentlich Action gefragt. Aber statt dessen wird eine Pistole unbenutzt zurückgegeben. Denn Tykwers Manni ist schließlich kein Reservoir Dog, sondern ein sensibler Liebender, der auf seine Lola vertraut.

Wer sich den Fragen Liebe und Leidenschaft allzu harmlos nähert, landet bekanntlich schnell beim B- Movie oder bei Sandra Bullock. Tom Tykwer, der in seinen früheren Filmen mit tiefsinnigen oder schrägen Liebeswirrnissen nicht gegeizt hat, kommt hier entschieden extrovertierter daher. Franka Potente als Lola mit den zunehmend zerzausten zyklamfarbenen Haaren spielt die Figur als mädchenhaftes Wesen ohne Hintergründe. Lola bedeutet jetzt, hier, keine Zeit, Biographisches spielt keine Rolle. Verschwunden ist der sympathische melancholische Bedeutungsbombast des Vorgängers „Winterschläfer“ (1997), der seine symbolstrotzenden Tableaus mit spröder Langsamkeit des Erzählens auf eigenartige Petitessen hin absuchte. „Lola“ wirft all das über Bord. Im Gegenteil, hier ist kein Platz für tranige Innerlichkeit, hier hobelt das unpersönliche Schicksal noch selbst. Heraus kommt die Struktur einer Skyline voll konkurrierender optischer Attraktionen und tänzelnder Lichtpunkte. Ein Planspiel, bei dem die zwei Hauptfiguren wie Spielfigürchen ohne Eigenschaften übers Mensch-ärger-dich-nicht-Brett hüpfen. Eine rot, der andere schwarz.

Eine kleine Ausnahme ist das Bettgeflüster zwischen Manni und Lola, das Tykwer als dezent ironisches Element einbaut. In rotes Licht getaucht – und Ruhepol zwischen den gehetzten Episoden –, bildet es den amüsanten Kitt des Films. „Wie, du liebst mich ... du glaubst es also, du weißt es nicht?“ „Doooch, ich spüre das ... mein Herz spürt das.“ „Ach so, und dann sagst du, danke Herz, für die Information, bis zum nächsten Mal“, wird wechselseitig gegrantelt. Auch die klassische Liebesszene ist also bloße Reminiszenz, mehr ist nicht drin für heute, denn schon ist der nächste Einsatz vom running girlie Lola dran.

Da ist auch der Spielort Berlin nicht mehr als städtische Kulisse – die sich an Synonymen wie Bolle oder BVG festmacht – kompiliert zur Kombination von Laufwegen und Rennrouten, die amüsanterweise völlig fiktional sind. Wie käme man sonst innerhalb von Sekunden von Mitte zum Wilmi- Proll-Imbiß unter der S-Bahn- Brücke Wilmersdorfer Straße oder blitzschnell nach Prenzlauer Berg zu besagtem Bolle.

Bewußt hat Tom Tykwer, frühkindlicher Filmmaniac (Spezialgebiet Horror- und Splatterfilme, aha) aus Wuppertal, ehemaliger Berliner Off-Kino-Macher (Moviemento), autodidaktischer Autorenfilmer und Mitbegründer des Filmlabels X-Film, mit seinem dritten Spielfilm eine Tour de force in Bewegung gesetzt, die erst einmal wenig mit den Vorgängern gemein hat. Dabei merkt man es dem Film nicht an, daß für die Crew um X- Film „Lola rennt“ – wie Produzent Stefan Arndt es formuliert – „ein Überlebensfilm“ auch im kommerziellen Sinn ist. In kürzester Zeit von knapp zwei Monaten abgedreht, lehnt sich die kleine Produktionsgroup damit nach dem beinah parallelen Start von „Das Leben ist eine Baustelle“ und „Winterschläfer“ ziemlich weit aus dem Fenster. Weder an der Varianz der Mittel noch an der Promo wurde gespart, der eingängig sphärische Soundtrack von Johnny Klimek und Reinhold Heil läuft seit Wochen auf MTV etc. als Clipschnipsel, mit Franka Potente als hauchiger Diseuse, die singt: „I wish I was a Hunter“. Tykwers Debütfilm „Die Tödliche Maria“ (1993) war ein getragenes Kammerspiel, „Winterschläfer“ (1997) ein rätselhaftes, zuweilen träges Alpen- und Liebesdrama mit pathetischem Tiefgang. Auf den Schmelz dieser Vorgänger muß man bei „Lola rennt“ verzichten, dafür aber wird man Zeuge eines sehr gelungenen Probelaufs der Mittel und Materialien, dem lediglich noch ein Quentchen zweckfreier Suggestion fehlt.

„Lola rennt“. Regie: Tom Tykwer. Mit Franka Potente, Moritz Bleitreu, Herbert Knaup, Armin Rhode u.a. D 1997, 79 Min.